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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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Ausprägung; die Unterschiede sind leicht zu verstehen:
    –  Modell I : Das Absolute und die Welt sind völlig eins . Im Grunde gibt es nur das Eine, das Brahman, und das ist mit meiner Seele, dem Atman, identisch. Und die Welt? Sie ist nur Scheinwirklichkeit, Maya. Dieses Einheitsmodell wird von einem Mann wie Shankara vertreten, Indiens wohl berühmtestem Philosophen. Ihm ist im 9. Jahrhundert n. Chr. die Restauration der Hindu-Religion gegen Buddhismus und Jainismus zu verdanken.
    –  Modell II : Das Absolute und die Welt sind völlig getrennt . Das ist die Auffassung der »Trennungsphilosophen« oder Dualisten. Angeführt werden sie von Madva , einem leidenschaftlichen Gegner Shankaras im 13. Jahrhundert.
    –  Modell III : Das Absolute und die Welt sind eins in Unterschiedenheit ! Der persönliche Gott ist mit dem Absoluten identisch und bestimmt die Welt von Ewigkeit her. Diesem einen unendlichen und zugleich persönlichen Gott gebührt Vertrauen, Hingabe, bhakti . So der differenzierte Monismus, angeführt von Ramanuja , ursprünglich Anhänger Shankaras, im 12. Jahrhundert. Er hat Indiens Spiritualität wohl am meisten beeinflusst, auch er ein mystischer Denker, Reformator, Gründer von Klöstern und sogar eines Ordens für Unberührbare. Bedauerlich, dass diese Grundfrage der Philosophie, die bei den Griechen und Indern so intensiv diskutiert wurde, in unserem »nach-metaphysischen« Zeitalter von den Philosophen nicht in neuer Weise aufgegriffen wurde.
    Nun gehört zum mittelalterlichen Hinduismus freilich – ähnlich wie zum mittelalterlichen Katholizismus – eine intensive Alltagsfrömmigkeit mit zahlreichen Bräuchen, Festen und Prozessionen, mit Fastenzeiten und Schutzgottheiten. Der geistlichen Unterweisung und geistlichen Führung, oft der ganzen Familie, dient ein Guru , ein Lehrer oder Seelenführer, durch den das Göttliche direkt präsent ist. Zu diesem Volkshinduismus gehören auch große Pilgerfahrten an Plätze göttlicher Präsenz und Gnade. Der beliebteste Ort – am Anfang dieses Kapitels war davon die Rede – ist Varanasi, die heilige Stadt, die für die Hindus eine ähnliche Bedeutung hat wie für die Katholiken Rom und für die Muslime Mekka.
    In Varanasi besuche ich auch das wichtigste hinduistische Heiligtum, den Vishvanath-Tempel: der Ort, an dem Shiva im Streit mit den Göttern Brahma und Vishnu seine ganze Macht – als langer Lingam (Phallussymbol) aus purem Licht – gezeigt haben soll. Doch unmittelbar hinter diesem Tempel – und ebenso streng von Soldaten bewacht – sehe ich die Gyanvapi-Moschee, erbaut vom letzten muslimischen Großmogul Aurangzep. Anders als der tolerante Akbar der Große im 16.   Jahrhundert ließ er im Varanasi des 17. Jahrhunderts fast sämtliche Hindu-Tempel zerstören. Die Moschee erinnert die Hindus täglich daran, dass Varanasi volle drei Jahrhunderte (seit 1194) unter muslimischer Herrschaft stand. Während ungezählte Hindus und Muslime jahrhundertelang durchaus friedlich zusammenlebten, spitzte sich auf dem Weg zur Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 der Konflikt zu mit der Spaltung des Subkontinents als Folge: in den islamischen Staat Pakistan, dessen östlich von Indien gelegener Teil sich 1971/72 auch noch als Bangladesch abspaltete, und die säkulare Republik Indien, die auch heute noch die drittgrößte muslimische Bevölkerung der Welt (nach Indonesien und Pakistan) aufweist: der letzten Volkszählung (2001) zufolge 135,5 Millionen.
    Der Hinduismus im Modernisierungsprozess
    Für alle Gesellschaften, Kulturen, Religionen ist die Konfrontation mit der Moderne eine grundlegende Herausforderung. Mit am deutlichsten erlebte ich dies in Indien 2000   Kilometer von den Quellen des Ganges entfernt: in Kolkata (früher Kalkutta), der alten Handels- und Kulturmetropole Indiens und lange Sitz der britischen Kolonialregierung (1858   –   1911). Früher betonte man in Indien vor allem die politische Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung durch Großbritannien. Doch mehr als 60   Jahre nach der Unabhängigkeit anerkennt man auch die britischen Verdienste für die Modernisierung Indiens : Ausbildung von englischsprachigen Eliten und Aufbau von Institutionen für einen einheitlichen Wirtschafts- und Verwaltungsraum und von Strukturen für die trotz aller Schwierigkeiten funktionierende größte Demokratie der Welt, die (anders als der große Nachbar und Konkurrent China) die Menschenrechte wie zum Beispiel die Pressefreiheit

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