Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
weitgehend zu wahren versucht.
In Kolkata erlebe ich deutlicher als anderswo, wie nahe in Indien Fortschritt und Rückständigkeit, Wohlstand und Armut beieinanderliegen. Und einmal mehr wird mir bewusst, dass Indiens Gesellschaft trotz aller Verwestlichung des städtischen Lebens noch immer traditionell durchstrukturiert ist: Jede Person kann genau sagen, welcher ihr Platz in der Gesellschaft ist. Ihr sozialer Status hängt in erster Linie von der Kaste ab. Ich weise Christen oft darauf hin, dass wir auch in Europa jahrhundertelang bis ins 20. Jahrhundert hinein vier recht abgeschlossene Gesellschaftsschichten besaßen, die wir »Stände« nannten: Klerus, Adel, Bürger, Arbeiterschaft, die durch vielfache Schranken voneinander getrennt waren. Von alters her unterscheidet man auch in Indien vier gesellschaftliche Gruppen ( varnas ): die »klerikale« Elite der Brahmanen, die Aristokratie der Kshatriyas oder Krieger, weiter die oft reichen Vaishyas oder Kaufleute, zuunterst die Masse der Shudras, der Knechte, Arbeiter, Proletarier (rund 500 Millionen). Dazu kommen in Indien noch die »Kastenlosen«, die »Outcasts«, Unberührbaren (rund 150 Millionen). Aus Familien- und Clanstrukturen, regionalen und berufsspezifischen Ausdifferenzierungen entstehen im Laufe der Jahrhunderte jene viele Tausend Kasten, die für das indische »Kastenwesen« sprichwörtlich sind. Erst seit dem Mittelalter hat sich in Indien jener Rigorismus durchgesetzt, der Heirat, Berufswahl und Sozialprestige von der Kaste abhängig macht – alles belastet durch die althergebrachte Vorstellung der rituellen Reinheit, mit der dieses System religiös begründet wird. Nach der Unabhängigkeit wird das Kastenwesen zwar »offiziell« abgeschafft, wirkmächtig ist es freilich bis heute.
Hier in Kolkata prallen buchstäblich Welten aufeinander: imposante Relikte der Kolonialzeit, moderne Geschäftsstraßen und Industriezentren, hoffnungslos verelendete Slums. Indien mag in demokratisch-rechtsstaatlicher Hinsicht durchaus ein Vorbild für Asien sein, aber bei allem Fortschritt ist es wirtschaftlich oft rückständig und vor allem sozial gespalten: Bevölkerungsexplosion, Armut und Krankheiten, Analphabetismus und Indifferenz, städtische Slums und Umweltzerstörung, ein höchst mangelhaftes Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrssystem.
Im Lauf der letzten Jahrzehnte hat sich sicher vieles verbessert. Und dies nicht nur im Verkehrswesen und allgemein in der Lebenshaltung, sondern auch durch den Einzug moderner Wissenschaft und Technologie bei Ärzten und Bankern, in der Industrie und an Universitäten, in der Gesellschaft überhaupt. Und die Frage ist nicht von der Hand zu weisen: Ist an dieser Ambivalenz Indiens und dem nach wie vor großen Elend nicht auch die Religion schuld ? Wird Ineffizienz vielleicht allzu leicht hingenommen als die natürliche Ordnung des Universums? Begünstigen die im Hinduismus herrschende Jenseitigkeit, Schicksalsgläubigkeit, Resignation, begleitet von Ritualismus und Aberglauben, vor allem aber das Kastensystem, doch politische Verantwortungslosigkeit, soziale Passivität, Indifferenz und Lethargie gegenüber wachsender Korruption?
Aber umgekehrt lässt sich auch nicht übersehen: Im Hinduismus hat es von Anfang an und erst recht seit der Erneuerungsbewegung des 19. Jahrhunderts eine starke Tradition des Ethos , ethischer Werte, Maßstäbe und Haltungen gegeben. Meine entscheidende Einsicht dabei: Was sich schon bei den Aborigines in Australien findet als ein bis auf die vorgeschichtlichen Anfänge des Menschen zurückgehendes Urethos , findet sich natürlich erst recht in den frühen Schriften Indiens aus vedischer Zeit. Und zahlreiche Elemente des Ethos (Werte, Normen, Tugenden) finden sich in den spätvedischen Upanishaden und in anderen religiösen Schriften. Eine erste Systematisierung des Ethos geht auf PATAÑJALI zurück , der als Begründer des klassischen Yoga gilt. Schon auf der ersten Stufe des von ihm in seinen Yoga-Sutren beschriebenen achtstufigen Lehrwegs fordert er vom Yoga-Übenden ein Grundethos ähnlich der zweiten Tafel des Dekalogs: Gewaltlosigkeit, nicht-verletzen ( a-himsa ); Wahrhaftigkeit ( satya ); nicht-stehlen ( a-steya ); Keuschheit, reiner Lebenswandel ( brahmacharya ); Begierdelosigkeit, nicht-besitzen ( a-parigraha ).
Aber noch mehr als Patañjali hat die Bhagavadgita , ein Teil von Buch VI des großen Epos Mahabharata und wohl die einflussreichste heilige Schrift Indiens, Anstöße zur
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