Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Frau SONIA GANDHI trotz ihrer italienischen Herkunft zur grauen Eminenz der Kongresspartei aufstieg und wenige Monate nach unserer Konferenz zur Vorsitzenden gewählt wurde. Sie war es, die zum Kolloquium nach Delhi eingeladen hatte.
Die kraftvollen politischen Persönlichkeiten Indira Gandhi und später ihre Schwiegertochter Sonia haben durch ihr Vorbild dazu beigetragen, dass heutzutage ein Drittel des indischen Volkes von Frauen als Premierministerinnen der Unionsstaaten regiert wird. Ich lerne bei der Konferenz eine ganze Reihe bedeutender indischer Persönlichkeiten kennen, unter anderen den späteren Premierminister MANMOHAN SINGH . Dabei wird mir die Ehre zuteil, einen halben Tag an der Seite Sonia Gandhis den Vorsitz führen zu dürfen. Das Thema meines Vortrags war »No Liberty without Responsibility: towards a Universal Ethic«.
Angesichts dieses Gremiums hochkarätiger Politiker konzentriere ich mich vor allem auf die Frage einer besseren Weltordnung , in der ja auch Indien eine große Rolle zu spielen hat. Meine Hauptthese ist: Eine neue Weltordnung wird nicht heraufgeführt allein durch diplomatische Offensiven oder humanitäre Hilfe, noch weniger durch zumeist negativ endende militärische Aktionen und selbst nicht durch das internationale Recht, das nach wie vor auf der Souveränität der Nationen beruht und ohne moralische Überzeugungen und Intentionen kaum zur Auswirkung kommen kann. Eine bessere Weltordnung kommt letztlich nur zustande auf der Basis gemeinsamer Visionen, Ideale, Werte, Ziele und Kriterien , durch eine erhöhte globale Verantwortlichkeit vonseiten der Völker und ihrer Führer, kurz durch ein bindendes und verbindendes Ethos für die gesamte Menschheit, die Staaten und ihre Machthaber eingeschlossen, das alle Kulturen und Religionen mit umfasst. Also: No New World Order without a New Global Ethic, keine neue Weltordnung ohne ein Weltethos.
Wie viel bei solchen Symposien faktisch hängen bleibt, ist schwer abzuschätzen. Für mich sind die Gespräche jedenfalls höchst informativ, und es bedeutet für mich und meinen Begleiter Stephan Schlensog auch ein besonderes Erlebnis, am Abend auf das schöne Besitztum der Familie Gandhi zu einer großen Party eingeladen zu sein und mit vielen Beteiligten private Gespräche führen zu dürfen. Nach all diesen positiven Erfahrungen gehen wir deshalb guten Mutes gleich anschließend zu dem von der Stiftung Weltethos angeregten indischen Weltethos-Kolloquium.
Erste Konferenz über Weltethos und traditionelle indische Ethik
Am darauffolgenden 23. und 24. November 1997 treffen sich im großen India International Centre in New Delhi über 50 Wissenschaftler und Aktivisten aus den verschiedensten Teilen Indiens. Als Organisator wirkt im Auftrag der Stiftung Weltethos Svami AGNIVESH , ein weitbekannter kritischer Hindu-Denker und Sozialaktivist. Die Einleitung hält der mir vom UNESCO-Projekt bekannte frühere Maharadscha von Jammu und Kaschmir, Dr. KARAN SINGH , Minister in verschiedenen Kabinetten. Diese Konferenz hat die Aufgabe, aus indischer Perspektive Stellung zu nehmen zur Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen und zur Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten, die erst kurz zuvor (September 1997) vom InterAction Council vorgeschlagen worden war. Leider nimmt Dr. Singh die ihm zugedachte Führungsrolle nicht wahr; er verschwindet gleich nach seinem Einleitungsreferat. Viele Aktivisten aber, am gemeinsamen Ethos nicht interessiert, halten schlicht Plädoyers für ihr jeweils eigenes (sicher wichtiges) Projekt. Es kommt aber schließlich doch zu einem Abschlussdokument.
Einmütig bejahen die Teilnehmer die »Bedeutung und Weisheit« der beiden historischen Initiativen, der Weltethos-Erklärung und der Erklärung der Menschenpflichten. Die Konsultation stellt fest, dass die Erklärung der Menschenrechte von 1948 sich in den letzten 50 Jahren als ein Segen erwiesen habe, insofern sie einen objektiven und verpflichtenden Bezugsrahmen schuf, um repressive Regime zu beurteilen und einzuschränken. Im Lichte des aufkommenden globalen Szenarios bestehe freilich eine drängende Notwendigkeit, die Sorge um die Menschenrechte auszubalancieren mit einer entsprechenden Betonung der Menschenverantwortlichkeiten (»human responsibilities«). Auf diese Weise lasse sich eine Grundlage sichern, um die Rechte selber für alle Menschen real und bedeutungsvoll zu machen. Man konnte sich hier auf ein bedeutsames
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