Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Aber diese hochspekulative Vorstellung vom Göttlichen konnte die Volksfrömmigkeit auf Dauer nicht befriedigen. Sie verlangte wie eh und je nach lebendigen konkreten Gestalten. Heil und Erlösung des Einzelnen werden jetzt immer mehr von der gläubigen Hingabe an einen personal gedachten Gott abhängig gemacht. Diese Entwicklung führt zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. vom »Brahmanismus« zu den klassischen Hindu-Religionen – für mich Paradigma III –, wie sie später unter anderem in den großen Hindu-Epen Mahabharata und Ramayana ihren einzigartigen literarischen Niederschlag finden. Neue Götter, vielfach aus lokalen Kulten hervorgegangen, die in den Veden keine oder nur eine geringe Rolle gespielt haben, treten jetzt in den Vordergrund: am beliebtesten Vishnu und Shiva.
Der indische Götterhimmel fasziniert und befremdet mich zugleich. Hunderte, ja womöglich Tausende Gottheiten werden in Indien verehrt – viele freilich nur von lokaler Bedeutung. Sie sind männlich, weiblich oder haben beiderlei Geschlecht, die einen fürchtet man, andere werden fast erotisch geliebt, die einen sind miteinander liiert oder zumindest verwandt, andere wirken aus und für sich allein, Einzelne – etwa Vishnu – greifen in unterschiedlicher Gestalt in die Weltordnung ein, andere bewirken transzendent-distanziert Gnade, Segen und Heil.
Eine unüberschaubare Vielfalt, die auch ich als christlicher Theologe lange Zeit als »Vielgötterei« abgetan habe. Und warum gerade ein Gott mit Elefantenkopf bei den Hindus so beliebt ist – Ganesha verkörpert neben vielen Stärken auch allzu menschliche Vorlieben und Schwächen –, wollte mir lange Zeit nicht einleuchten. Erst nach und nach habe ich realisiert, dass dies alles ja auch für den Hinduismus nur vorläufig und damit relativ ist. Denn letztlich geht es hinduistischem Erlösungsstreben um das dahinter liegende allumfassende Absolute, zu dem die Götter je unterschiedliche Zugänge eröffnen und in das der gläubige Hindu einst einzugehen erhofft.
Unter der Gupta-Dynastie in Nordindien (320 bis 500 n. Chr.), in einer Blütezeit der Hindu-Kunst und Sanskrit-Literatur, war diese klassische Zeit des Hinduismus eingeleitet worden. Nach ihr waren kleinere feudale Herrscher (die Rajputs, »Söhne des Königs«) an die Macht gekommen, deren Hauptbeschäftigung Sexualität und Krieg waren. Sie förderten eine neue Kultur, welche die erotische Liebe zwischen Mann und Frau breit entfaltete und künstlerisch immer raffinierter gestalten ließ. Keine Hemmungen kannte man in der Darstellung weiblicher Reize und weiblicher Nacktheit auf Tempelreliefs. Wir zeigen dies in unserem Film mit Aufnahmen aus Khajuraho (nahe beim zentralindischen Bhopal), wo von den ursprünglich 88 prachtvollen Tempeln aus der Zeit von 950 bis 1150 noch 22 erhalten sind.
Hintergrund dieser Entwicklung waren die in dieser Zeit aufkommenden Tempeldienerinnen (»Devadasi« = »Gottesdienerinnen«). Sie spielten in Tanz, Drama, Musik und später auch in der Prostitution eine immer größere Rolle. Seinen Niederschlag fand dies in der esoterisch-elitären Bewegung des Tantrismus . Auch wenn es dabei um mehr als nur um Kultivierung von Sexualität ging, so musste sich diese Bewegung immer wieder des Vorwurfs erwehren, sie missbrauche Religion für sexuelle Zwecke und Sexualität für ein religiöses Ziel.
Der mittelalterliche Hinduismus
Schon in dieser klassischen Zeit stellte sich jenes philosophische Problem, das mich als philosophisch geschulten Theologen natürlich besonders interessierte: Wie verhält sich denn das göttliche Eine, Absolute, zur Welt? Nach mehr als 1000 Jahren hatten sich in den mittelalterlichen Schulen drei grundlegend verschiedene Antworten herausgebildet, die sich aber alle auf die Upanishaden beriefen und in Frontstellung gegen den Buddhismus, von dem später die Rede sein wird, formuliert werden. Die Gründer dieser drei Vedanta-Schulen – für mich interessant, weil zeitgleich zur Entwicklung der scholastischen Systeme im mittelalterlichen Europa – sind philosophische Denker, die zugleich tief religiöse Mystiker, Reformer und Ordensgründer sind. Sie wollen nicht nur philosophische Spekulation treiben, sondern ausdrücklich Theologie, Religion, Heilslehre fördern. Sie alle führen die großen mittelalterlichen Hindu-Synthesen – für mich das vierte Paradigma – herauf. Durch sie erhält der Hinduismus seine heutige maßgebliche
Weitere Kostenlose Bücher