Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Ethisierung gegeben. Dogmatisch offen und realistisch in der Ausgangssituation, spielt sie nicht in einem Ashram. Vielmehr vertritt sie auf dem »Kampfplatz« des Lebens am Vorabend der Schlacht zweier verwandter Clans ein ausgesprochen weltliches Ethos. Keine »Ethik« im Sinne eines ethischen Systems, wohl aber ein »Ethos« im Sinn einer sittlichen Haltung: Erfülle deine Pflicht in der Welt, aber verfalle ihr nicht! Ein entschiedenes Engagement also in innerer Distanz. Schon in der Bhagavadgita findet man die drei praktischen Hinduwege zum Heil, die sich gegenseitig ergänzen: den »Weg der Erkenntnis« ( jñana marga ), den »Weg der Werke« ( karma marga ) und den »Weg der Gottesliebe« ( bhakti marga ); alle führen für sich zum einen Ziel, zu Gott, zur Erlösung.
Eine solche ethisch-spirituelle Verwurzelung hatten auch jene hinduistischen Reformer des 19. Jahrhunderts, die in Auseinandersetzung mit westlicher Religion, Kultur und Wissenschaft traditionelles indisches Denken weiterentwickelten zu einem eigenständigen indischen und hinduistischen Traditions-, Geschichts- und Nationalbewusstsein: der moderne Reformhinduismus (oder auch Neo-Hinduismus) – mit seinen verschiedenen Repräsentanten – als fünftes Paradigma . Sie gelten als geistige Wegbereiter der Unabhängigkeit Indiens: RAM MOHAN ROY, SRI AUROBINDO, BANKIMCHANDRA CHATTERJEE, RAMAKRISHNA, VIVEKANANDA, MAHATMA GANDHI sind die berühmtesten von ihnen. In unserem Film über den Hinduismus konzentrieren wir uns auf Ramakrishna (1834 – 1886) und besuchen in Kolkatadas große Hauptquartier der internationalen Ramakrishna-Bewegung am Ganges, auf dem Gelände des Dakshineshvara-Tempels der Muttergöttin Kali. Gegründet wurde dieses Hauptquartier vom Meisterschüler Ramakrishnas, Svami Vivekananda (1863 – 1902) . Er war die charismatische Figur, die auf dem Ersten Parlament der Weltreligionen im Zusammenhang der Weltausstellung in Chicago (1893) eine flammende Rede zur Begegnung von Christentum und östlichen Religionen hielt: Statt der bisherigen Konflikte und Konfrontationen forderte er eine Harmonie der Religionen von Ost und West.
Als ich in Vivekanandas Arbeitszimmer stehe, kommt mir unwillkürlich der Gedanke: Er hätte sicher der Erklärung zum Weltethos zugestimmt, die 100 Jahre später das Zweite Parlament der Weltreligionen wiederum im großen Saal des Art Institute in Chicago verabschiedet hat: keine Aufhebung der dogmatischen Differenzen, keine Einheit der Religionen, aber doch Friede unter den Religionen durch Besinnung auf einige ethische Imperative, an die sich die Menschen halten sollen und die in allen diesen Religionen im Wesentlichen die gleichen sind. Rechte (»rights«) und Pflichten (»responsibilities«) des Menschen nicht getrennt, sondern vereint. Schon MAHATMA GANDHI (1869 – 1948) hatte, als man ihm einen Entwurf der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vorgelegt hatte, all denen, die einseitig von den Menschenrechten und zu wenig von den Menschenpflichten zu reden schienen, ins Gewissen gerufen: »Der Ganges der Rechte entspringt im Himalaja der Pflichten!« Der Schlussartikel 29 der Menschenrechtserklärung nimmt eigens auf diese Pflichten und die moralische Ordnung Bezug. Und genau darum bemühe ich mich mit bescheidenen Kräften auch in Indien.
Indira-Gandhi-Konferenz in Delhi
Für den 19.–22. November 1997 bin ich nach New Delhi zur internationalen Indira-Gandhi-Konferenz eingeladen. Ich kann dies mit unserer Drehreise verbinden und nehme die Einladung gerne an. Die Familie Gandhi hat ja ähnlich wie die Familie der Kennedys, die ich in den 1960er-Jahren kennengelernt hatte, ein tragisches Schicksal zu erdulden. Die Premierministerin INDIRA GANDHI , Tochter Nehrus, des ersten Premierministers Indiens, war 1984 einem Attentat zweier ihrer Leibwächter, die der Sikh-Gemeinschaft angehörten, zum Opfer gefallen: ein Racheakt für die Erstürmung des von radikalen Anhängern eines unabhängigen Sikh-Staates besetzten Goldenen Tempels von Amritsar durch indische Truppen mit weit über 100 Toten – ein Dutzend Jahre nach meinem Besuch im damals noch völlig friedlichen Heiligtum (Bd. 2, Kap. V: Der Goldene Tempel der Sikhs). Indiras Sohn Sanjay kam durch einen Flugzeugabsturz ums Leben, ihr älterer Sohn Rajiv fiel 1991 als Premierminister bei einer Wahlkampfveranstaltung einem Bombenanschlag zum Opfer. So ergab es sich, dass dessen sich klug zurückhaltende
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