Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
wie die Bibel), darunter die spekulativ-philosophischen Upanishaden, gelten als »Shruti« , als »gehörter«, »geoffenbarter« Teil der indischen religiösen Literatur. Davon zu unterscheiden die »Smirti« (»Erinnerung«), die nicht geoffenbarten menschlichen Interpretationsversuche der Offenbarung. Alles ist verfasst in Indiens heiliger (ursprünglich nordwestlicher, arischer) Sprache, dem »Sanskrit« (»geregelt«, »vollkommen«). Diese klassische indische Schrift- und Literatursprache wird von Brahmanen und Gebildeten auch heute noch studiert, doch ist sie wie Latein eine »tote« Sprache. Als Landessprache wird sie 1965 offiziell abgeschafft zugunsten des (ebenfalls nordindischen) Hindi.
Die Suche nach Einheit
Schon im Philosophieunterricht am Gymnasium in Luzern hatte ich gelernt, wie bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland die ersten Philosophen die Mythologie überstiegen und nach der Herkunft und dem Aufbau aller Dinge und der Welt forschten. Als den Ursprung (griech.: »arché«), woraus alles entsteht und wohin es wieder geht, bestimmten Thales das Wasser, Anaximenes die Luft, Heraklit das Feuer und Anaximander das Apeiron, das Unbestimmte, während schon Parmenides in seiner Lehre vom Sein, das als »eines« und »ungeworden« verstanden werden müsse, die Metaphysik begründete. Umso mehr erstaunte mich zugleich zu erfahren, dass man wohl schon zuvor in Indien Ungenügen empfand an einer rein mythologischen Betrachtung der Welt mit den vielen sich widersprechenden Göttern. Möglich, aber nicht bewiesen, dass Einflüsse aus Indien sich in der ionischen (kleinasiatischen) und eleatischen Schule (an der Südküste Italiens) auf die griechische Philosophie ausgewirkt haben.
In Indien hatte man damals zunehmend, so lernte ich zu verstehen, die Brahmanen kritisiert, ihre immer kompliziertere Opferwissenschaft und ihren Machtzuwachs als Berater der Herrschenden. Kühne Denker schritten fort zur philosophischen Durchdringung der Mythologie. »Das Eins-Seiende benennen die Dichter vielfach« , heißt es im »Rigveda« (I, 164,46). Die Denker suchten vor allem nach einer tiefen, ursprünglichen, ewigen Einheit hinter der bunten Vielfalt der Erscheinungen dieser Welt, all den Göttern und Mächten. Gesucht wird also »das Eine« ( tad ekam ) hinter und in allen Dingen.
In Indien vor Ort habe ich diese in den Upanishaden vorfindbare Suche nach Einheit in einem Statement des Hinduismus-Films wie folgt beschrieben: »Der Mensch muss die sichtbare Oberfläche der Dinge durchstoßen und in sich selber hineinschauen. Dann findet er zutiefst in sich, wenn er die Augen gleichsam schließt und sich nach innen wendet, in sich selber den Ursprung, den Urgrund des Seins, das Brahman, und erfährt: Dieses Brahman und das Atman – so nennt man in Indien die Seele, den Geist – sind, so sagen die Inder, letztlich eins. Das ist nicht ganz so fern von dem, was die christliche Mystik gefunden hat, dass es eine letzte Einheit irgendwo in der Tiefe des menschlichen Wesens gibt. Und sie haben von dort her gefordert: ›Gott suchen in allen Dingen, vor allem in dir selbst.‹«
Zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert kam es so zur ersten kohärenten philosophischen Konzeption der früheren Upanishaden, die auch als »Ende des Veda« (»Vedanta«) bezeichnet werden: als Abschluss der Offenbarung. Zusammen mit dem sich erst allmählich entwickelnden Wiederverkörperungs- und Karmadenken kam es so zu einem Paradigmenwechsel: die neue Konstellation der Religion der Upanishaden ist für mich das zweite Paradigma der Religion Indiens. Alles nach wie vor zu verstehen vor dem Hintergrund eines zyklischen Zeit- und Geschehensablaufs. Diese Deutung behält ihre Suggestionskraft für viele Inder bis heute wegen der zyklischen Abläufe in der Natur: Gestirnbahnen, Jahresphasen, Mondphasen, Tag und Nacht … Dabei wird freilich vielfach übersehen, dass neuen Erkenntnissen zufolge die Natur nicht nur Kreisbewegungen durchführt, sondern – von den Atomkernen bis zu den Sternen – eine nicht rückgängig zu machende Geschichte in einer bestimmten Richtung durchläuft: seit dem Urknall eine Welt-Geschichte von Milliarden Jahren, die auf ein Ende zugeht.
Das große Geheimnis der Wirklichkeit, das Brahman , war für die Upanishaden ohne greifbare Gestalt, ein Absolutes, dem man »Sat-cit-ananda« zuschrieb: in einem reinen Sein (»sat«) erkennendes Bewusstsein (»cit«) und alles erfüllende Glückseligkeit (»ananda«).
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