Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Washington zu sehen. Die Vorgespräche führe ich schon im Zusammenhang meiner Bucerius Lecture am Deutschen Historischen Institut am 17. April 2002, auf die ich gleich noch eingehen werde. Am Morgen nach der Rede bin ich zum Frühstück eingeladen im Private Dining Room des Chefs des Internationalen Währungsfonds in Washington, Dr. HORST KÖHLER . Als Mitglied des Kuratoriums unserer Stiftung Weltethos kennt er die Ausstellung und erklärt sich zu meiner Überraschung bereit, sie auch beim IWF zu zeigen: eine mutige Entscheidung, sie gerade im Kontext der IWF-Jahreskonferenz zu präsentieren, zu der alle Finanzminister und Notenbankchefs zusammenkommen!
Durch Dr. Köhler kommt auch der Kontakt mit JAMES WOLFENSOHN , dem Präsidenten der Weltbank, zustande. Ich besuche ihn am 19. September 2002, an vielen Sicherheitskontrollen vorbei, in seinem Büro, begleitet von Dr. Schlensog. Wolfensohn zeigt sich höchst erfreut über meinen Besuch. Er habe viel von mir gehört: »Sie haben recht«, sagt er uns, »wir brauchen dringend einige elementare ethische Standards. Als ich vor vielen Jahren aus Australien nach New York kam, sagte ich meinen Leuten in meiner Investmentbank nur zwei Dinge: ›Do not lie, and do not steal‹ – ›Lügen Sie nicht und stehlen Sie nicht‹. Und diese Regel befolgend, wurden wir in kurzer Zeit zu einer der 20 besten Banken der Wall Street.«
Wolfensohn hatte schon 1998, zusammen mit dem Erzbischof von Canterbury, GEORGE CAREY , eine Organisation von Vertretern aus den Religionen und der Wirtschaft gegründet (World Faiths Development Dialogue, WFDD). Und zum großen Erstaunen innerhalb des IWF hatte er eine eigene Beauftragte für Ethik eingesetzt, in der Person von KATHERINE MARSHALL , die nun auch für die Anliegen des Weltethos offen sein soll. Ich treffe Katherine verschiedentlich bei internationalen Zusammenkünften. 2006 verlässt sie den IWF und wird Executive Director des WFDD.
Am 19. September 2002 eröffnen der Chef des Währungsfonds, Horst Köhler, und ich unsere Ausstellung »World Religions – Universal Peace – Global Ethic« in der »IMF Gallery« im Rahmen einer »Opening Reception«. Zur Unterstützung dieser Ausstellung werden zeitgleich die Filme unserer TV-Serie »Spurensuche« gezeigt. Am Abend desselben Tages gibt der Chef des Währungsfonds ein offizielles Dinner für zwei Dutzend geladene Gäste. Für mich besonders interessant sind die Gespräche mit dem deutschen Botschafter WOLFGANG ISCHINGER , den ich schon in seinen Jahren im Auswärtigen Amt schätzen gelernt hatte. Wichtige Informationen über die Lage der USA bekomme ich in der Unterhaltung mit zwei hervorragenden Kennern der politischen Situation: Prof. NORMAN BIRNBAUM , berühmter Soziologe und Anthropologe am Georgetown Law Center (auch in Deutschland gut bekannt), und Jura-Professor ROBERT DRINAN , sozial engagierter Jesuit und viermal wiedergewählter Abgeordneter von Massachusetts im US-Kongress, bis er von Johannes Paul II. 1980 (im Jahr meines Missioentzugs) zum Verzicht auf sein politisches Mandat gezwungen wurde.
In Washington führt Stephan Schlensog und mich unser Fußweg vom Hotel Sofitel zum IWF immer am Weißen Haus vorbei. Dabei gehen uns sorgenvolle Gedanken über die US-Politik durch den Kopf. Wird doch in diesen Tagen die neue aggressive »Bush-Doktrin« durch das Dokument »The National Strategy of the USA« offiziell. Doch nun noch einmal, wie versprochen, zur Bucerius Lecture:
Rückfall ins konfrontative Paradigma von Weltpolitik
Die jährliche Bucerius Lecture des Deutschen Historischen Instituts geschieht in Erinnerung an Gerd Bucerius, den Gründer und langjährigen Herausgeber der »Zeit«. Sie findet dieses Jahr am 17. April 2002 im Ballroom des Westin Embassy Row Hotels statt mit der provozierenden Thematik »A New Paradigm in International Relations? Reflections on September 11, 2001«. Darin übe ich – als »Ausländer, aber nicht als Fremder« (»as a foreigner, not a stranger«) – taktvoll, aber ungewohnt deutlich Kritik an der Politik der Bush-Administration in Afghanistan und auch an der israelischen Politik in Palästina. Ich kleide meine Anklage aber in die Form von Wünschbarkeiten (»Opportunities after September 11«) und führe jeden der zwölf Punkte ein mit der Formel: »It could be that …« – »Es könnte ja sein, dass …«). Zum Beispiel: » Es könnte ja sein , daß auch die neue amerikanische Administration einsieht, daßwer den
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