Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
als man mich voller Schrecken alarmiert, es sei ein Flugzeug in das World Trade Center in New York hineingerast. Ich schalte sofort das Fernsehen ein und erlebe den Absturz des zweiten Flugzeugs mit dem Zusammenbruch der beiden Türme und grauenvollen Szenen in den Straßen. Ein verheerender Terrorangriff extremistischer Islamisten auf das World Trade Center und, wie man gleich hört, auch auf das Pentagon! Die Angreifer aber kommen nicht, wie zuerst vermeldet, aus Afghanistan oder gar Iran, sondern zumeist aus Saudi-Arabien. Erst mit der Zeit taucht der Name von al-Qaida und ihres Chefs OSAMA BIN LADEN auf.
Der 11. September 2001 geht als ein schwarzes Schreckensdatum in die Geschichte der Menschheit ein. Umgekehrt aber zeigt sich bei allen negativen Folgen jetzt erst recht die Notwendigkeit eines interreligiösen Dialogs für Politik und Gesellschaft. Und zugleich macht es vielen Menschen bewusst, dass die einzige Alternative zum bewaffneten Kampf der Dialog zwischen den Kulturen, Religionen und Staaten ist, global, regional und auch lokal.
Wegen der Terroranschläge kommt die UN-Generalversammlung früher und kürzer als vorgesehen zusammen, schon am 8./9. November 2001, um über den Dialog der Kulturen (»Dialogue of Civilizations«) zu beraten. Auch ich reise wieder nach New York und bin Zeuge der Debatte. Erfreulicherweise sprechen sich alle Delegierte, die sich zu Wort melden, für den Dialog aus. Anwesende Mitglieder unserer Gruppe überreichen Generalsekretär Kofi Annan ein gedrucktes Exemplar unseres Manifests und werden von ihm zum Mittagessen eingeladen. Ich drücke Kofi Annan mein Bedauern darüber aus, dass faktisch das ganze Publikum durch die New Yorker Polizei von der UN-Sitzung ferngehalten wird – aus »Sicherheitsgründen«. Kofi lächelt leise und bemerkt: »Vielleicht wünschen das gewisse Leute auch so!«
Sicherheitshysterie, angeheizt durch den plötzlich kriegslüsternen Präsidenten GEORGE W. BUSH , setzt sich überall durch. Schlimm ist, dass über diese ganze wichtige UN-Debatte in den Medien der USA faktisch nichts berichtet wird. Man bereitet sich offensichtlich auf den Krieg vor, und die Medien machen mit, selbst mein amerikanisches Leibblatt »New York Times/International Herald Tribune«. Die Redaktion entschuldigt sich später sogar bei ihren Lesern, ständig zu einseitig die aggressive und vielfach irreführende Regierungssicht wiedergegeben zu haben.
Am 9. November ist einzelnen Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe Gelegenheit gegeben, vor der UN-Generalversammlung ein Statement abzugeben. Für mich als Theologen eine bewegende Erfahrung, vor diesem Weltforum über das zentrale Anliegen zu sprechen, für das ich mich seit Jahren einsetze. Es sei mir gestattet, aus meinem Statement wenige Sätze zu zitieren: »Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist ein solch globales Ethos absolut notwendig …: Die Globalisierung braucht ein globales Ethos, nicht als zusätzliche Last, sondern als Grundlage und Hilfe für die Menschen, für die Zivilgesellschaft. …Einige Politologen sagen für das 21. Jahrhundert einen ›Zusammenprall der Kulturen‹ voraus. Dagegen setzen wir unsere andersgeartete Zukunftsvision; nicht einfach ein optimistisches Ideal, sondern eine realistische Hoffnungsvision: Die Religionen und Kulturen der Welt, im Zusammenspiel mit allen Menschen guten Willens, können einen solchen Zusammenprall vermeiden helfen.« 22
Die Generalversammlung verabschiedet am 9. November 2001 eine Resolution zu einer »Globalen Agenda für den Dialog der Kulturen« . Artikel 1 beschreibt den Dialog zwischen Kulturen als einen Prozess, der gegründet ist auf dem »kollektiven Verlangen zu lernen, Vorannahmen freizulegen und zu untersuchen und gemeinsamen Sinn und Kernwerte zu entfalten«; Artikel 2 fordert konkret »die Entwicklung von besserem Verstehen auf der Basis gemeinsamer ethischer Standards und universaler menschlicher Werte« (»Dokumentation«, S. 262).
Weltethos auch bei IWF und Weltbank
Eine besondere Ehre ist es für die Stiftung Weltethos, dass sie ihre Ausstellung »Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos« zum Abschluss des Internationalen Jahres des Dialogs der Kulturen 2001 im UN-Hauptquartier zeigen darf – angesichts der immensen Sicherheitsvorkehrungen für unseren Generalsekretär Dr. Schlensog eine logistische Herausforderung sondergleichen! 23
Ein Jahr später ist unsere Ausstellung auch beim Internationalen Währungsfonds in
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