Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
gestalten wir so einfach wie möglich: kurze Begrüßung durch den Rektor, dann durch mich als Präsidenten der Stiftung Weltethos, dann die Rede des Premierministers und anschließend ein Dialog auf der Bühne zwischen ihm und mir. Als wir zusammen mit dem Rektor auf die Bühne treten, wird Tony Blair schon durch Standing Ovations begrüßt, er spricht mit seinem wohlklingenden Englisch mit Humor die Zuhörer an – Thema der Rede: »Werte und die Kraft der Gemeinschaft«. Mit viel Verve und konkreten Beispielen vertritt er die These, »dass uns in einer Welt des Wandels nur der Glaube an die Gemeinschaft und an die Gleichwertigkeit aller Menschen Hoffnung auf eine friedliche und gedeihliche Zukunft gibt und dass eine auf reinem Eigeninteresse beruhende materialistische Philosophie in den Ruin führt«. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung am Anfang durch dieselben Demonstranten läuft alles planmäßig ab. Riesiger Applaus am Ende.
Tony Blair hatte sich die Herzen seiner jungen wie älteren Zuhörer erobert und wird begeistert gefeiert. So ist es für ihn in jeder Hinsicht ein ermutigender Tag bei bestem Wetter in unserer kleinen Universitätsstadt. Er muss sofort nach der Rede wieder zum Flughafen gefahren werden, um nach Berlin und noch am selben Abend zurück nach London zu gelangen. Es ist ein großartiger Erfolg für ihn, und für unsere Stiftung ein glanzvoller Auftakt für die ganze Reihe illustrer Weltethos-Redner bis 2012. Und doch: Niemand kann damals ahnen, dass gerade dieser erste Weltethos-Redner uns nur drei Jahre später zutiefst enttäuschen würde. Dazu später mehr.
Weltethos an der UNO
Das Jahr 2001 markiert einen dramatischen Höhepunkt in der Wirkungsgeschichte der Weltethos-Thematik. Bereits 1998 war von der Vollversammlung der Vereinten Nationen ein muslimischer Antrag – von MOHAMMAD KHATAMI , dem damaligen reformorientierten Präsidenten der Islamischen Republik Iran – angenommen worden, 2001 zum »Internationalen Jahr des Dialogs der Kulturen« auszurufen. Einige in der UNO sehen in diesem Projekt nur einen philosophischen Nutzen, nicht aber einen praktischen Wert, andere geradezu einen Luxus angesichts der zu bewältigenden Herausforderungen.
Nicht so der Generalsekretär der Vereinten Nationen und Friedensnobelpreisträger KOFI ANNAN . Er erkennt in der interkulturellen Verständigung eine Aufgabe von höchster weltpolitischer Dringlichkeit und beruft den erfahrenen UN-Diplomaten GIANDOMENICO PICCO zu seinem »persönlichen Beauftragten für den Dialog der Kulturen«. Dieser versammelt in Annans Auftrag eine 20-köpfige »Gruppe herausragender Persönlichkeiten« (»Group of Eminent Persons«) von internationalem Ansehen, persönlicher Glaubwürdigkeit und anerkannter Kompetenz, um ein »Manifest zum Dialog der Kulturen« zu erarbeiten.
Picco ist sehr erfreut, mich im November 1999 nach meiner Ankunft im VIP-Raum des Flughafens von Amman anzutreffen, und so fahren wir gemeinsam zur Weltkonferenz der Religionen für den Frieden in die jordanische Hauptstadt. Dort wird mir unerwarteterweise in letzter Minute, wohl auf Betreiben von PRINZ HASSAN , die Ehre der Dinner Speech anlässlich des Eröffnungsabends angetragen. Was ich für ein Plädoyer für das Weltethos nutze. Aber am folgenden Tag hört man wie üblich von allen Seiten gut gemeinte Vorträge für den Frieden, ohne jegliche Selbstkritik und ohne jegliche praktischen Konsequenzen, was ich besonders angesichts des Palästina-Konflikts bedauere.
Nach einem kurzen Zwischenhalt in Tübingen fliege ich am 1. Dezember 1999 nach Kapstadt, um am Dritten Parlament der Weltreligionen teilzunehmen. Wichtig für mich ist dort vor allem der öffentliche Dialog mit Professor STEVEN ROCKEFELLER , Sohn des früheren US-Vizepräsidenten Nelson Rockefeller und promovierter Religionsphilosoph, über das Verhältnis von Weltethos und Earth Charter, für deren Abfassung er als Koordinator verantwortlich war. Die Diskussion verläuft lebhaft und konstruktiv: Ich mache deutlich, dass die Weltethos-Erklärung schon im Abschnitt über die Ehrfurcht vor allem Leben die Ökologie als wesentliche Dimension des neuen Paradigmas zur Geltung bringt. Rockefeller seinerseits erläutert, dass sie nach dem Erdgipfel in Rio (1992) sich gedrängt sahen, in die ausgearbeitete Earth Charter auch allgemeine ethische Grundsätze aufzunehmen, vor allem um Wahrhaftigkeit anzumahnen, die sie bei verschiedenen Unterzeichnern des Rio-Abkommens vermisst
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