Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
und Mikrophonen diskutierten die Polit-Senioren leidenschaftlich und engagiert. Bemerkenswerterweise beschäftigten sich die Herren ausschließlich mit aktuellen Themen. Keine Geschichten aus den ›guten alten Zeiten‹.« In der Tat geht es leidenschaftlich vor allem um die Frage, ob deutsche Truppen nach Afghanistan geschickt werden sollten, was Rau und Weizsäcker verteidigen, Schmidt und ich aber ablehnen. Das damals von Helmut Schmidt geprägte prophetische Wort wird vermutlich allen Teilnehmern noch in den Ohren klingen: »Wenn wir deutsche Truppen nach Afghanistan schicken, dann werden die jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang nicht mehr wieder herunterkommen.« Trotz des auf 2014 angesetzten Truppenabzugs werden auch danach noch mehrere Tausend Soldaten aus USA, Deutschland und anderen Ländern in Afghanistan bleiben.
Nach der grundsätzlichen Zusage KOFI ANNANS wird die Dritte Weltethos-Rede schließlich auf den 30. April 2003 angesetzt. Große Freude in Tübingen. Aber unterdessen hat sich die Lage wegen der durch die Amerikaner und Briten intensiv vorbereiteten Invasion des Irak bedrohlich zugespitzt. Es ist für Kofi, wie er mir später sagt, seine schwierigste Zeit bei der UNO, die von der Bush-Regierung offen missachtet wird. Schließlich kommt ein Telefonanruf aus Kofi Annans Büro in New York, der mich erschreckt: Die Weltethos-Rede kann im April nicht stattfinden! Doch soll sie zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Schließlich wird Kofi Annans Weltethos-Rede auf den 12. Dezember 2003 angesetzt. Titel: »Gibt es noch universelle Werte?«
Kaum ein Gast ist an unserer Universität so begeistert begrüßt worden wie Kofi Annan. Nach dem Empfang durch Rektor EBERHARD SCHAICH und Oberbürgermeisterin BRIGITTE RUSS - SCHERER und der Eintragung seines Namens in die Goldenen Bücher von Universität und Stadt gehe ich mit ihm zuerst durch die zwei größten überfüllten Hörsäle, in die das Ereignis übertragen wird, bevor wir dann mit dem Rektor auf die Bühne des Festsaals gelangen. Überall stehender Applaus der begeisterten Studenten.
In seiner Rede ruft Kofi Annan mit bewegenden Worten zur Toleranz zwischen den Religionen auf und setzte sich für universelle Werte ein. Bis heute werden immer wieder seine Schlussworte zitiert: »Gibt es noch universelle Werte? Ja, es gibt sie, aber wir dürfen sie nicht für selbstverständlich halten. Sie müssen sorgfältig durchdacht, sie müssen verteidigt, und sie müssen gestärkt werden. – Und wir müssen in uns selbst den Willen finden, nach den Werten zu leben, die wir verkünden – in unserem Privatleben, in unseren lokalen und nationalen Gemeinwesen und in der Welt.«
Die Weltethos-Reden
In der Folge entwickelt sich die alljährliche Weltethos-Rede an der Universität zum großen Ereignis des Jahres, mit einer starken Ausstrahlung auf die Stadt und darüber hinaus. Das liegt natürlich an den Persönlichkeiten, die ich gewinnen kann und die hier alle einen eigenen Kommentar verdient hätten. Aber in unserem Zusammenhang muss ich mich auf eine Auflistung beschränken; die Titel sprechen für sich. Weltethos-Redner nach Tony Blair, Mary Robinson und Kofi Annan sind:
– 1. Dezember 2004: Bundespräsident Prof. Dr. HORST KÖHLER : »Was gehen uns andere an?«
– 20. Oktober 2005: Friedensnobelpreisträgerin Dr. SCHIRIN EBADI (Iran): »Der Beitrag des Islam zu einem Weltethos«
– 10. Mai 2006: Dr. JACQUES ROGGE , Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC): »Weltsport und Weltethos«
– 8. Mai 2007: Altbundeskanzler Dr. h.c. HELMUT SCHMIDT : »Das Ethos des Politikers«
– 15. Juni 2009: Friedensnobelpreisträger Erzbischof DESMOND TUTU (Südafrika): »Weltethos und Menschenwürde: eine afrikanische Perspektive«
– 16. Dezember 2010: Minister STEPHEN GREEN , ehemaliger Verwaltungsratsvorsitzender von HSBC Holdings PLC: »Globale Wirtschaft – Globale Ethik«
– Und schließlich am 18. April 2012 Prof. CLAUS DIERKSMEIER , der neue Direktor des unterdessen gegründeten Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen: »Wie sollen wir wirtschaften? Das Weltethos im Zeichen der Globalität«.
Von fast allen Weltethos-Rednern war schon in den beiden früheren Bänden dieser »Lebenserinnerungen« die Rede gewesen, und von fast jeder Weltethos-Rede ließe sich eine amüsante Szene erzählen:
So, als ich nach meiner Begrüßungsansprache für Horst Köhler im Festsaal
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