Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
kommen.
Die Sorge um meine Nachfolge ist nur die letzte der ungezählten großen und kleinen Sorgen und Probleme, mit denen ich mich neben meiner wissenschaftlichen Tätigkeit Tag für Tag auseinandersetzen muss. Denn neben allen neuen Aufgaben seit den 1980er- und 1990er-Jahren habe ich mein leidenschaftliches Engagement für Kirchenreform und Ökumene nie vernachlässigt. Davon erzähle ich im großen historischen Kontext im nächsten Kapitel.
XI. Dauerproblem Kirchenreform
»Die Kirche, die in ihrem eigenen Schoß auch Sünder umfasst,
ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig,
sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung.«
Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution über die Kirche, Art. 8
Weltprobleme und Kirchenprobleme gehören für mich zusammen. Selbstverständlich weiß ich, dass die Weltprobleme viel bedrückender sind als die Kirchenprobleme, die Weltökumene bedeutsamer als nur die Kirchenökumene, der Weltfriede noch viel dringender als der Kirchenfriede. Aber zugleich bin ich entschieden der Überzeugung: Kirchliche Vorschläge für eine Lösung der großen Weltprobleme sind nicht überzeugend, solange die Lösungen der großen Kirchenprobleme ausgeklammert werden. Das Engagement der Kirche für die Weltökumene ist nicht glaubwürdig, wenn die Ökumene der Kirchen und Religionen nicht einbezogen wird. Der Einsatz der Kirchen für den Weltfrieden ist nicht ehrlich, auch nicht effizient, wenn der mangelnde Kirchenfriede immer wieder Ursache so vieler Spannungen und Spaltungen unter den Völkern bleibt.
Weltprobleme und Kirchenprobleme
Gerade 1990, da überall auf der Welt eine tiefe Friedenssehnsucht durchgebrochen ist, wo in einem versteinerten Machtsystem wie dem Ostblock ein völlig unerwartetes Bewusstsein von politischer Freiheit, Menschenrechten, Demokratie, Pluralismus aufgebrochen ist, im Zeitalter von Perestroika und Glasnost sollte doch die Kirche mit Reformen in ihrem eigenen Inneren vorangehen, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 65) so hoffnungsvoll begonnen hatten.
Aber ich weiß: Anders als in der Konzilszeit bläst uns reformorientierten katholischen Christen der amtskirchliche Wind scharf ins Gesicht. Der Papst aus Polen, ein Mediensuperstar und Reformblockierer, will keine innere Erneuerung (»innovatio«) und keine ökumenische Initiative, sondern eine römisch-katholische Restauration . Er macht »Pilgerreisen« in alle Welt und predigt überall Freiheit der Kirche und Menschenrechte, aber im Inneren der Kirche unterdrückt er diese Freiheit, respektiert nicht die Menschenrechte; er verbietet Pille und Kondome und profiliert das Römisch-Katholische wieder auf Kosten der anderen Kirchen.
Für mich hat dies freilich auch eine positive Folge: Meine theologische Arbeit, welche die Forderungen, Anliegen, Wünsche ungezählter Christen aufgenommen hat, wird in den 1990er-Jahren im Licht des hoffnungslos restaurativen Kurses sehr viel besser als in früheren Jahren verstanden. Zahllose Katholiken realisieren jetzt, dass die gegenwärtige römische Politik sich auf Kurs in die Vergangenheit befindet und der Kapitän dabei ist, das Schiff in gefährliche Wasser zu steuern. Hatte ich vor einem Jahrzehnt bisweilen das Gefühl, mit meiner frühen Kritik am Pontifikat Johannes Pauls II. beinahe allein zu stehen (und dafür auch allein mit dem Entzug meiner kirchlichen Lehrbefugnis einen Preis zu bezahlen), so ist die Enttäuschung über den gegenwärtigen Kurs je länger desto mehr verbreitet.
Dies signalisiert die 1989 unter großem Medienecho veröffentlichte »Kölner Erklärung«, von meinen katholischen Tübinger Kollegen NORBERT GREINACHER und DIETMAR MIETH initiiert und von 162 katholischen Theologieprofessoren des deutschsprachigen Raumes unterzeichnet. Unter dem Titel »Wider die Entmündigung – Für eine offene Katholizität« wird eine detaillierte Kritik veröffentlicht: in erster Linie an den neueren römischen restaurativen Bischofsernennungen auf der ganzen Welt, aber auch an der Praxis der Besetzung von Theologieprofessuren und der Erteilung der kirchlichen Lehrerlaubnis und schließlich an der unzulässigen Ausweitung der lehramtlichen Kompetenz des Papstes. Diese »Kölner Erklärung« von 1989 reiht sich würdig an die von mir initiierten Erklärungen »Für Freiheit der Theologie« (1968) und »Wider die Resignation« (1972).
Das Vertrauenskapital
Ich persönlich empfinde es als ein Zeichen der Zeit, dass mich
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