Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
– Zeitgenossen erklärt
Das war schon ein kühnes Wagnis, für das Studium generale einer säkularen Universität im Sommersemester 1991 als Thema schlicht »CREDO. Das Apostolische Glaubensbekenntnis – für heute erklärt« auf unseren Plakaten anzukündigen. Und dies für den größten Hörsaal mit rund 600 Plätzen.
Natürlich habe ich mich gefragt: Wie viele Menschen interessieren sich überhaupt noch für das traditionelle christliche Glaubensbekenntnis? Viele nennen sich religiös, doch nicht christlich, viele christlich, doch nicht kirchlich. Aber gerade meine Auseinandersetzungen mit dem römischen Lehramt um einzelne traditionelle Glaubensaussagen erregten ja auch über die Kirchenmauern hinaus Aufmerksamkeit. Sie zeigten, wie wenig »erledigt« manche uralten Grundfragen des christlichen Glaubensbekenntnisses sind. Gestritten wird ja nun in aller Öffentlichkeit um das Verständnis von Schlüsselaussagen wie »Geboren aus der Jungfrau Maria. Hinabgestiegen in die Hölle/das Reich der Toten. Auferstanden von den Toten. Aufgefahren in den Himmel«. Und mit allen Mitteln versucht man noch heute vielfach den Kindern zuerst ein wörtliches Verständnis dieser Glaubensartikel beizubringen.
Erfreulicherweise kann heute jedoch niemand mehr zum Glauben gezwungen werden. Doch viele Zeitgenossen möchten gerne glauben, aber so wie man im Altertum, im Mittelalter oder in der Reformationszeit glaubte, können sie es nicht. Zu viel hat sich verändert in der Gesamtkonstellation unserer Zeit. Zu vieles im christlichen Glauben erscheint fremd, scheint gültigen Einsichten der Natur- und Humanwissenschaften, aber auch den humanen Impulsen unserer Zeit zu widersprechen.
Ich kann mich in meiner Neuinterpretation auf Papst JOHANNES XXIII. berufen, der 1962 in seiner berühmten Eröffnungsansprache den »springenden Punkt« des Konzils nannte, um den es auch mir geht: Es gehe nicht um »die Diskussion dieses oder jenes Grundartikels der Lehre der Kirche in weitschweifiger Wiederholung der Lehre der Väter sowie der alten und modernen Theologen, welche man unserem Geist immer gegenwärtig und vertraut voraussetzen darf«. Sondern es gehe um »einen Sprung voran , hin auf eine Lehrdurchdringung und eine Bildung der Gewissen, gewiss in einer vollkommeneren Entsprechung und Treue zur echten Lehre, doch diese studiert und dargelegt in den Formen der Forschung und literarischen Formulierung eines modernen Denkens«.
Was also will ich mit diesen Vorlesungen? Sicher nicht eine möglichst »originelle«, persönlich-willkürliche, vielmehr eine auf der Basis der Schrift formulierte Auslegung der in diesem »Credo« gebündelten christlichen Glaubensartikel geben, wie sie im Verlauf der ersten vier oder fünf Jahrhunderte sukzessive festgelegt wurden. Zugleich aber auch nicht eine steril dogmatische oder esoterische, sondern eine die Fragen der Zeitgenossen ernst nehmende Interpretation, die sogar Nicht-Glaubenden verständlich sein sollte. Jedenfalls will ich in unbedingter intellektueller Redlichkeit alle Artikel des »Apostolisch« genannten Glaubensbekenntnisses am Evangelium, das heißt an der ursprünglichen christlichen Botschaft, messen, und zwar – dies ist nun entscheidend – wie sie heute mit den Mitteln historisch-kritischer Forschung dargelegt werden kann.
Und genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister, unterscheiden sich auch meine Interpretation und die von JOSEPH RATZINGER . Er hatte sich schon als Tübinger Professor in seiner »Einführung ins Christentum« (1967) zwar zur historisch-kritischen Bibelforschung bekannt, aber sie überall dort vernachlässigt, wo das Dogma infrage gestellt wird. Während ich schon im Buch »Christ sein« (1974) meine Christologie »von unten« ausführlich entwickelt hatte, hat Joseph Ratzinger auch die langen Jahre in Regensburg und in Rom nicht genutzt, um seine Monographie über Jesus zu veröffentlichen. Erst als Papst hat er dann sein früheres Material aufgearbeitet und es in drei Bänden vorgestellt. Doch erst im dritten Band (2012) behandelt er die umstrittenen Glaubensartikel und zeigt dabei, dass er in den Jahren nicht nur nichts dazugelernt, vielmehr die früher noch entwickelten Ansätze historischer Kritik völlig verabschiedet hat. Alles was über die Kindheit Jesu in den beiden Evangelien von Mattäus und Lukas berichtet wird, ordnet er nicht historisch ein, sondern nimmt er wörtlich. Der katholische Tübinger Neutestamentler Michael Theobald stellt
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