Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
der Universität aus Versehen mit meinem eigenen Manuskript das schon auf dem Pult bereitliegende des Bundespräsidenten mitnehme und es ihm, als er Hilfe suchend umherschaut, lachend und zur Erheiterung des Publikums zurückgebe.
Oder als eine mir bekannte Iranerin den Übersetzer der tapferen Teheraner Rechtsanwältin Schirin Ebadi laut korrigiert und ihre Tochter ihr zuzischt: »Still, es müssen nicht alle Leute wissen, dass wir Perserinnen sind.«
Oder als Erzbischof Tutu zur Freude des ganzen Publikums vom Rednerpult wegtänzelt, um seiner Begeisterung für »Ubuntu« (afrikan.: Kern des Seins oder der Persönlichkeit) Ausdruck zu verleihen.
Oder als Helmut Schmidt meine Bemerkung am Anfang meiner Begrüßung, wir hätten uns zum ersten Mal 1981 (im Hause des Bundesbankpräsidenten Dr. Klasen) getroffen, sofort korrigiert: »Nein, das war 1961.« Ich darauf freundlich: »Es war später.« Schmidt: »Ich bin zwar älter als Sie, aber mein Gedächtnis ist besser!« Ich wollte ihm nicht sagen, dass er sich um 20 Jahre getäuscht hatte. So ein kleinlicher Streit um ein Datum hätte die ganze Stimmung verdorben. Das wäre umso peinlicher gewesen, als bei dieser Weltethos-Rede, die am Ende einer Expertentagung des InterAction Council stand, vier ehemalige Regierungschefs in der ersten Reihe saßen: INGVAR CARLSSON (Schweden), MALCOLM FRASER (Australien), ABDEL SALAM MAJALI (Jordanien) und FRANZ VRANITZKY (Österreich).
Mit den Weltethos-Reden haben wir zumeist ein festliches Abendessen in meinem Haus verbunden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Staatsmänner und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens einem offiziellen Essen meist ein »privates Dinner« vorziehen, wie es mir auch aus Kofi Annans Büro deutlich gesagt wurde. Ich sehe noch heute Kofi Annan am 12. Dezember 2003 mit strahlendem Gesicht auf unsere Terrassentüre zugehen, um den großen Christbaum mit Kerzen im Schnee zu bewundern: »So einen möchte ich in meinem Garten in Genf auch haben.«
Bei solchen Essen kommen natürlich auch sehr ernsthafte Themen zur Sprache. So habe ich zum Beispiel Bundespräsident Köhler schon 2004 zu überzeugen versucht, dass Volksabstimmungen wie in der Schweizer direkten Demokratie durchaus ein belebendes Element auch für die deutsche Politik sein könnten, wo die Bürger zwischen zwei Wahlen vier Jahre lang wenig zu sagen haben. Danach schickte ich ihm sogar das Beispiel einer schweizerischen Orientierungsbroschüre nach Berlin, die jeden Stimmbürger oder Stimmbürgerin vor einer Abstimmung sachlich über die unterschiedlichen Standpunkte informiert.
Aber Sympathie in weiteren Kreisen in Deutschland findet dieses Modell direkter Demokratie erst angesichts des katastrophalen Scheiterns der politischen und technischen Eliten an Großprojekten wie der Elbphilharmonie in Hamburg, dem Bahnprojekt »Stuttgart 21« und dem neuen Flughafen Berlin Brandenburg – mit Hunderten von Millionen Euro Kostenüberschreitung, von den über 500 Millionen Euro verschwendeter Steuergelder für die utopische Planung einer Euro-Drohne ganz zu schweigen. Zur gleichen Zeit wird das größte Verkehrsprojekt der Schweiz, der Gotthard-Basistunnel, mit 57 Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt, gebaut, aber erst nachdem das Projekt durch drei eidgenössische Volksabstimmungen bezüglich Planung, Durchführung und Finanzierung abgesegnet worden war. Der Durchstich wird im Jahre 2013 geschafft, und der Betrieb wird vermutlich im Jahr 2016 aufgenommen werden können. Alles ohne Proteste, vom ganzen Volk mitgetragen. Dass eine Volksabstimmung auch einmal schlecht ausgehen kann – so 2009 die gegen den Bau neuer Minarette, die von Demagogen zur Abwehr der »islamischen Gefahr« hochstilisiert wurde – muss in Kauf genommen werden. Dafür zeigt die 2013 vom Schweizer Volk mit großer Mehrheit (gegen die Empfehlung von Regierung und Parlament) angenommene »Abzocker-Initiative« gegen überhöhte Managergehälter, dass auf diese Weise nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Regierung und Parlament in ihre Schranken gewiesen werden können.
Mit der Zehnten Weltethos-Rede 2012 aber schlägt unsere Stiftung eine neue Seite ihrer noch kurzen, aber ereignisreichen Geschichte auf.
Weltethos-Institut an der Universität (Tübingen 2012)
Selbst die Weltethos-Aktivitäten auf höchster Ebene, wie etwa bei der UNO, haben letztlich ihre Basis am Sitz unserer Stiftung in Tübingen. Wenn ich bei der Abfassung dieser Erinnerungen
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