Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
verursachten Veränderungen in der katholischen Kirche scheint es mir schon früh notwendig, die zentralen Fragen zu stellen: Was wollen wir als Christen eigentlich, was ist die christliche Botschaft? Was ist das unterscheidend Christliche? Was muss bei allen Veränderungen doch bleiben?
Das Bleibende, das unterscheidend Christliche, die »Seele« der Kirche – dies vertrete ich seit 1970 mit wachsender Deutlichkeit – ist nicht eine Idee, ein Prinzip, ein Grundsatz, eine Grundhaltung, sondern das ist, einfach und schlicht in einem Wort gesagt, eine Person: Jesus Christus selbst. 9 Die Norm, nach welcher die radikale Reform der Kirche durchzuführen ist, kann keine andere sein als Jesus, der Christus, auf den sich die Kirche ständig beruft. Nicht jede Glaubensideologie ist von daher akzeptabel, nicht jede moralische Revolution erlaubt, nicht jede Verbindung mit anderem Glauben möglich, nicht jedes theologische Anliegen durch säkulare politische Forderungen ersetzbar. Im Buch »Christ sein« (1974) habe ich das alles auf weit über 600 Seiten begründet und erklärt. Dies bleibt mein Standpunkt bis heute.
Die Leitgestalt jeglicher Kirchenreform: »Jesus« (2012)
Schon lange hatte ich die Absicht, aufgrund der für das Buch »Christ sein« geleisteten Arbeit ein ganz auf Jesus konzentriertes Buch zu schreiben, und dies auf der soliden Grundlage historischer Forschung. Gleichzeitig hat ja auch Joseph Ratzinger, Papst BENEDIKT XVI. , seine schon in die Tübinger Jahre zurückreichende Darstellung von Jesus Christus geschrieben. Nicht von ungefähr war deshalb in der römischen Kurie die Kritik laut geworden: Statt die Kirche zu leiten und sich ihren unbequemen Problemen zu stellen, schreibt dieser Papst Tag für Tag an seinen Büchern, die er besser als Professor in Regensburg oder als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom geschrieben hätte. Diese Kritik ist berechtigt, übersieht aber die Absicht des Papstes, gerade in diesem Buch die Grundlage zu legen für seine Leitung der Kirche und die von ihm geforderte geistige Erneuerung.
Beide Jesus-Bücher haben zweifellos auch eine »kirchenpolitische« Funktion. Ich habe die Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Aufklärung aufgenommen, während ihr Ratzinger nur Lippenbekenntnisse zollt. Die für die Dogmatik unbequemen Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung ignoriert er und überspielt sie mit Zitaten der Kirchenväter und der Liturgie auf zugegeben geistreiche Weise. Sein Jesus-Bild »von oben« hat er entscheidend vom Dogma der hellenistischen Konzilien des 4./5. Jahrhunderts und von der Theologie Augustins und Bonaventuras inspirieren lassen. Er interpretiert – nicht ohne Zirkelschlüsse – die synoptischen Evangelien vom Johannes-Evangelium her und dieses wiederum vom Konzil von Nikaia (325) aus, das ich meinerseits am Neuen Testament messe. So präsentiert er durchgehend ein stark vergöttlichtes Jesusbild, während ich den geschichtlichen Jesus und seinen lebensgefährlichen Konflikt mit der religiösen Hierarchie und der pharisäischen Frömmigkeit herausarbeite.
Ratzingers Jesus-Bild ist nur ein Beispiel für die Schwächen seiner Theologie. Niemand hat diese im katholischen Bereich deutlicher aufgedeckt als HERMANN HÄRING (vgl. Bd. 2, Kap. VIII: Das Abenteuer eines Buches). Seine Einschätzung wird bestätigt durch die scharfsinnige Analyse des evangelischen Theologen FRIEDRICH WILHELM GRAF , »Nicht von dieser Welt« 10 .
Die Konsequenzen sind offenkundig: Ratzingers dogmatisierter Jesus Christus dient indirekt der Rechtfertigung des gegenwärtigen römischen Systems. Wie man vom Christus Pantokrator (Allherrscher) her die Vormachtstellung des byzantinischen Kaisers begründen konnte, so seit dem Mittelalter die Vormachtstellung des römischen Bischofs, der aus dem Nachfolger Petri immer mehr zum Stellvertreter Christi, ja Gottes, geworden ist. Göttliche Autorisierung macht dieses autoritäre System unangreifbar, aber auch unreformierbar. Der Jesus der Geschichte hat in diesem System nichts zu sagen. Doch denen, die meiner Christologie vorwerfen, sie vernachlässige die Tradition und die offizielle Kirchenlehre, sei gesagt: Ich habe mich durchaus der kirchlichen Tradition gestellt, habe das offizielle »Apostolische Glaubensbekenntnis« im Buch »Credo« (1992) den »Zeitgenossen erklärt«. Und die Entwicklung der Christologie »von oben«, vor allem der Präexistenz und der Erlösungslehre, habe ich in meinem Band
Weitere Kostenlose Bücher