Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
kann? Um nicht als Richter zu erscheinen, sondern eher als Arzt, verwende ich in diesem Buch oft die medizinische Sprache. Was ist meine Diagnose der Entwicklung von den Anfängen der Kirche bis zur Gegenwart? Die Ursachen der Krise liegen weit zurück im 1. Jahrtausend: Die katholische Kirche, diese große Glaubensgemeinschaft, ist ernsthaft krank, sie leidet schon lange unter dem römischen Herrschaftssystem.
Ich gebe mir größte Mühe, durch präzise historische »Anamnesen« und systematische »Diagnosen« die Entwicklung deutlich zu machen: vom frühen römischen Herrschaftsanspruch zum späteren römischen Prinzip im ersten Jahrtausend, und von dessen Ausgestaltung zum römischen System zu Beginn des 2. Jahrtausends. Dieses System hat sich seit der Trennung von den östlichen Kirchen im 11. Jahrhundert durchgesetzt und gegen alle Widerstände durchgehalten. Es ist charakterisiert durch ein Macht- und Wahrheitsmonopol, durch Juridismus und Klerikalismus, Sexual- und Frauenfeindschaft sowie geistlich-ungeistliche Gewaltanwendung.
Dieses System trägt zwar nicht die alleinige, aber, wie schon angedeutet, doch die Hauptverantwortung an den drei großen Spaltungen der Christenheit: die erste zwischen West- und Ostkirche im 11. Jahrhundert, die zweite in der Westkirche zwischen katholischer und protestantischer Kirche im 16. Jahrhundert und schließlich im 18./19. Jahrhundert die dritte Spaltung zwischen römischem Katholizismus und aufgeklärter moderner Welt. Sowohl die protestantische Reformation wie die moderne Aufklärung kamen nur bedingt dagegen an. Und selbst das Zweite Vatikanische Konzil, das sowohl das Paradigma der Reformation wie das der Aufklärung zu integrieren versucht hatte, konnte sich nur teilweise durchsetzen. Ja, es kommt nach dem Konzil schließlich unter dem polnischen und dem deutschen Restaurationspapst zum Rückfall in die vorkonziliare Konstellation, was die Kirche in diese tiefe Krise der Gegenwart führt.
Aus der Diagnose ergeben sich die konkreten Therapien , die im letzten Kapitel jenes Buches eingehend behandelt werden und die sich mit all den in diesem Kapitel dargelegten decken (vgl. die Auflistung der Reformen in meinem offenen Brief an die Bischöfe). Doch ist nun hier angesichts der vielen Veränderungen in Kirche und Gesellschaft die grundsätzliche Frage zu stellen nach dem, was sich nicht verändern soll:
Was bleiben muss
Bei einigen christlichen Kirchen muss man den Niedergang fürchten. Lässt sich doch nicht übersehen, dass die konservativen, charismatischen oder pfingstlichen Kirchen am meisten Zulauf haben, die progressiven protestantischen Mainstream-Kirchen – lutherisch, reformiert oder methodistisch – jedoch ständig Mitglieder verlieren. Selbstverständlich stellt sich im Modernisierungsprozess für alle Kirchen das Problem des Substanzverlusts.
Selbst die anglikanische Episkopalkirche der USA, die einen »mittleren Weg« zwischen dem mittelalterlichen und dem reformierten Paradigma der Kirche zu gehen versucht, erweist sich nicht als besonders erfolgreich. Ich war am 15. Oktober 1978 vom prominenten Bischof von Newark, JOHN SHELBY SPONG, enthusiastisch begrüßt und in seine Diözese eingeladen worden. Ich halte auch dort einen Vortrag, empfinde aber schon früh Schwierigkeiten, Spongs zunehmend radikale Ansichten über Glaubens- und Moralfragen zu teilen. Nicht akzeptabel erscheint mir bei ihm und vielen in seiner Gefolgschaft die Leugnung des personalen Gottes und der Sinnhaftigkeit des traditionellen Gebetes. 1998 hatte Bischof Spong sein Buch »Why Christianity Must Change or Die« veröffentlicht.
Seit den 1960er-Jahren waren ja alle Kirchen nicht nur mit der sexuellen Revolution, sondern auch mit Konsumismus und Materialismus, mit Multikulturalismus und Relativismus konfrontiert. Aber wie darauf antworten? Ich habe nie JOSEPH RATZINGERS These geteilt, die er 2005 in seiner »Wahlrede« zur Papstwahl proklamiert hat, von der »Diktatur des Relativismus«, hinter der sich lediglich die eigene Position der »Diktatur des Dogmatismus« verbarg. Aber ich war auch nicht bereit, auf jeder Welle des Zeitgeistes mitzuschwimmen. Etwa wenn ein schwuler episkopalischer Pfarrer unbedingt Bischof von New Hampshire werden will und dies auch gegen den heftigen Widerstand vieler Gemeindemitglieder und angesichts der drohenden Spaltung der ganzen anglikanischen Weltgemeinschaft unbekümmert durchkämpft.
Angesichts der durch das Konzil
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