Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
»Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1994) ausführlich dargestellt.
Aber nicht Dogmen und Doktrinen erfreuen und erwärmen das Herz eines Christenmenschen, sondern jener Jesus, der mit seiner Botschaft, seinem Verhalten und seinem Geschick so vielen Menschen wahrhaft zur Freude geworden ist. Es ist keine »Evviva, evviva!«-Freude. Es ist eine stille Freude, wie sie unübertroffen in Johann Sebastian Bachs Choral »Jesus bleibet meine Freude« innig und beglückend ausgedrückt worden ist. Dieser Choral wirkt sogar ohne alle Worte, wenn er nur auf dem Klavier gespielt wird, wie dies bewegend kurz vor seinem Tod (1950) der große rumänische Pianist Dinu Lipatti getan hat.
Einsamer Rufer in der Wüste?
Blicke ich nun auf mein Leben zurück, so kann und muss ich mich fragen: Was habe ich eigentlich erreicht? Was haben alle meine Bemühungen um eine Reform meiner Kirche schließlich erbracht?
Da habe ich mir im Lauf der Jahre die Finger buchstäblich wund geschrieben: Tausende von Seiten in meinen Büchern, Hunderte Artikel und Stellungnahmen in allen möglichen Sprachen, zahllose Interviews, Gespräche und Kolloquien … Doch abgesehen von der Konzilszeit und dem unvergessenen Jahr 1963, in welchem ich als katholischer Christ gleichzeitig auf Papst Johannes XXIII. und Präsident Kennedy blicken konnte, musste ich ständig gegen den Wind segeln, und dies oft durch große Stürme und lange Regenzonen. Aber bin ich da eigentlich vorangekommen, oder bewege ich mich im Kreise?
Selbstmitleid ist in meinem Fall nicht angebracht. Ich bin kein Hiob, habe bis jetzt Leben und Gesundheit, Haus und Heimat bewahrt, habe ein unwahrscheinlich reiches Leben geführt. Habe mir Jahrzehnt um Jahrzehnt ein ständig um neue wichtige Themen ringendes literarisches Œuvre erarbeitet. Habe alle Regionen dieser Erde zwischen Spitzbergen und dem Kap der Guten Hoffnung und von Europa mehrfach rund um die Welt bis zum Chinesischen Meer und zur Südsee kennengelernt. Habe unbeschreiblich schöne Naturerlebnisse gehabt von den Gipfeln der Alpen bis in die Unterwasserwelten des Pazifik.
Nein, ich bin auch kein Jeremia, der als Prophet in Not und Elend leben musste, dem Klagen über sein Volk und die Regierenden aufgetragen waren und der Ablehnung durch sein Volk, Misshandlung und Verbannung erfahren musste. Ich habe immer und überall auch viel Zustimmung und Sympathie gefunden und habe zahllose wunderbare Menschen in allen Völkern und Religionen kennengelernt. Trotz offizieller Desavouierung konnte ich meinen Lehrstuhl und mein Institut bewahren, und nach meiner Emeritierung sogar eine eigene Stiftung gründen und so mein hoch qualifiziertes Mitarbeiterteam behalten. Ich erfuhr von meiner Familie und vom engsten Kreis meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so viel Treue, Zuneigung und Liebe, dass ich aufs Ganze gesehen – trotz mancher einsamer und schwieriger Stunden und Tage – ein glückliches Leben führen konnte.
Und so wird denn schon mein 75. Geburtstag, der 19. März 2003, zu einem wahren Glückstag, der mir ungezählte mündliche und schriftliche Glückwünsche einbringt. In fast allen Zeitungen erscheinen Gedenkartikel; amüsiert lese ich da die verschiedenen Schlagzeilen, oft sind sie dialektisch formuliert: Da ist die Rede nicht nur von einem »Konsenssucher«, »Kämpfer für Reformen« und »Verfechter des Weltethos«, sondern auch von einem »Rebell in nomine domini«, »frommen Rebell und katholischen Weltbürger«, »Roms verlorenem Sohn« »Roms Streiter, Friedens-Stifter, Gegen-Papst«, ja einem »Verstoßenen, der dankbar zurückblickt« etc.
Weltweites Echo findet eine anlässlich meines 75. Geburtstags lancierte Initiative des Diözesanrates des Bistums Rottenburg-Stuttgart zu meiner Rehabilitierung. In der Katholisch-Theologischen Fakultät hält man auf Einladung des Instituts für Ökumenische Forschung ein Symposion ab über »Ökumene im dritten Jahrtausend«. Nach einer sympathischen Einleitung durch den Institutsdirektor Prof. BERND-JOCHEN HILBERATH folgt eine sehr substantielle Laudatio von Prof. OTTO HERMANN PESCH , mit dem ich anschließend einen fundierten freundschaftlichen Dialog führe. In Berlin im Schloss Bellevue erhalte ich von Bundespräsident JOHANNES RAU zu meinem 75. wie Prof. WALTER JENS gleichzeitig zu seinem 80. Geburtstag das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland mit Stern verliehen. Von Ministerpräsident ERWIN TEUFEL , der als Überraschungsgast in
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