Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
das ältere Manuskript für das jüngere. Nur genaueres Beobachten zeigt natürlich Unterschiede. Ist das nicht vielleicht ein Symptom dafür, dass ich bei allem Wandel der Welt und meiner selbst unverwechselbar derselbe geblieben bin, meine persönliche Identität bewahrt habe?
Mit dem Sterben rechnen
In meinen Vorlesungen von 1981 über die Frage »Ewiges Leben?« hatte ich schon vorsichtig auf die Frage der Sterbehilfe hingewiesen, die in Deutschland aufgrund des nazistischen Euthanasieprogramms tabuisiert und mit hohen Emotionen belastet ist. Mir aber ist die Sterbehilfe seit dem langen Dahinsiechen meines Bruders Georg an einem unheilbaren Gehirntumor ein ganz persönliches Anliegen. So wie er, sagte ich mir schon 1955, möchte ich keinesfalls sterben (vgl. Bd. 1, Kap. III: In den Grotten von Sankt Peter).
Doch in meinen 1982 veröffentlichten Vorlesungen kann ich schon einen doppelten Konsens voraussetzen: Allgemein verabscheut und abgelehnt wird heutzutage die von den Nazis staatlich verordnete und ohne Zustimmung der Betroffenen durchgeführte Vernichtung angeblich »lebensunwerten Lebens«, also die bewusste Tötung Missgebildeter, geistig oder physisch Kranker sowie angeblich sozial unproduktiver Menschen. Und ein Zweites: Allgemein akzeptiert wird heutzutage die »passive« Sterbehilfe mit Lebensverkürzung als Nebenwirkung, oder genauer: die Sterbehilfe durch Abbruch der künstlichen Lebensverlängerung.
Umstritten aber bleibt die »aktive« Sterbehilfe , die direkt auf Lebensverkürzung abzielt: der »Gnadentod«. Schon Anfang der 80er-Jahre finde ich für meine Auffassung Verständnis, dass eine Therapie nur sinnvoll bleibt, solange sie nicht nur zum Dahinvegetieren, sondern zur Rehabilitation, also zur Restitution der ausgefallenen lebenswichtigen körpereigenen Funktionen und so zur Wiederherstellung der ganzen menschlichen Person führt. Bei jeder Intensivtherapie ist folglich zu fragen, ob sie nicht nur technisch machbar, sondern auch ärztlich sinnvoll ist.
Doch gedenke ich gelegentlich noch deutlicher auf die Frage der »aktiven« Sterbehilfe einzugehen, die auch praktisch gar nicht so leicht von der »passiven« zu unterscheiden ist. Oder ist etwa das Abstellen eines Beatmungsgerätes oder der künstlichen Nahrung nicht ebenso aktiv (und vielleicht sogar weniger barmherzig) wie eine Überdosis Morphium?
Ich versuche, weitere Erfahrungen zu sammeln und zu verarbeiten: So nehme ich am 27. Juni 1988, im grünen Operationskittel und Mundschutz, an einer Hirnoperation des Chefs der Tübinger Neurochirurgie, Professor ERNST GROTE , teil. Drei Tage später halte ich auf seine Einladung hin in San Francisco am Kongress der »Society of University Neurosurgeons« (SUN) angesichts der Aids-Problematik einen Vortrag über »Dying with Human Dignity«. Das Echo war erfreulich positiv:
»… Sie haben in klarer Diktion und Offenheit über die Fragen referiert und zu ihnen Stellung genommen, die uns alltäglich berühren, denen wir manchmal aus mannigfachen Gründen aus dem Wege gehen. Ihr Vortrag an dieser Stelle war so überzeugend, dass der SUN-Club beschlossen hat, in Zukunft, wie hier in Tübingen, den invited guest-lecturer nicht aus dem eigenen Fachgebiet, sondern aus den angrenzenden philosophisch-religiösen Fakultäten zu bitten« (Prof. Grote in seinem Brief vom 15. 7. 1988).
Auch werde ich eingeladen, in der Tübinger Chirurgischen Klinik die Abteilung für Verbrennungen zu besichtigen. Nur mit Schaudern denke ich daran zurück. Man zeigt mir unter anderen einen Elektriker, der mit seinem Gesicht in eine Starkstromleitung gefallen war und den man seiner eigenen Familie nicht zu zeigen wagte. Denn statt eines Kopfes mit einem menschlichen Gesicht, sehe ich etwas, was mich an einen verbrannten Kohlkopf erinnert, an dem noch zwei Augen kleben. Man hofft, ihn wenigstens so weit herstellen zu können, dass seine Familie ihn irgendwie wiedererkennen kann. Ich denke dann: Wenn er sich selber so sehen könnte wie ich ihn, würde er sich vielleicht eher den Tod als ein solches Leben wünschen.
Mit meinem Kollegen und Freund WALTER JENS hatte ich schon öfter über die Frage des menschenwürdigen Sterbens gesprochen, und wir finden dabei heraus, dass wir ganz ähnlich denken. Das veranlasst uns schließlich, für das Studium generale 1994 eine zweistündige Doppelvorlesung zur Frage des menschenwürdigen Sterbens anzukündigen. Der größte Hörsaal der Universität ist denn auch übervoll,
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