Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
oberflächlichen Einwände gegen jegliche »aktive« Sterbehilfe. Als ich sie frage, ob sie diese Position als Justizministerin, als führendes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, als Vorsitzende der Hospizbewegung oder einfach als evangelische Christin vertrete, verweigert sie die Antwort auf diese berechtigte Frage nach ihrem Standpunkt und ihrem Argumentationsfundament mit echter oder gespielter Empörung: gerade von mir hätte sie eine solch provokative Frage nicht erwartet, und beantwortet sie denn auch nicht. Ihre Argumentationsbasis bleibt ungeklärt.
Zum scharfen Zusammenprall aber kommt es mit WALTER JENS , als sie ihm vorwirft, er falle mit seiner Argumentation für die Sterbehilfe auf nazistische Positionen zurück. Jetzt protestiert Jens empört. Die Stimmung im Saal ist aufgeheizt und eine sachliche Diskussion von da ab schwierig. So endet die ganze Diskussion mit einem Misston und in schlechter Stimmung. Als ich anschließend bei einem Glas Wein im Tübinger Ratskeller eine versöhnliche Bemerkung zu Frau Däubler-Gmelin am Nebentisch mache, antwortet diese unversöhnlich an Walter Jens gewandt: Gerade in Tübingen hätte sie ja nun schon »ein anderes Niveau der Diskussion« erwartet. Das erzürnt meinen Freund von Neuem: »Natürlich, Ihr Niveau können wir selbstverständlich nie erreichen, o nein …!« Die beiden gehen in Unfrieden auseinander; eine Versöhnung erfolgt erst viel später, als man den Namen von Walter Jens für eine Wählerinitiative der SPD braucht.
Aber dies ist auch meine Erfahrung: Man findet in der Frage »aktive« Sterbehilfe kaum Ärzte, die es wagen, ihre Meinung öffentlich zu sagen, wiewohl sie, die gesetzesfreie Grauzone nutzend, oft beim Sterben nachhelfen. Eine sehr engagierte praktische Ärztin, mit der ich die Probleme des alltäglichen Sterbens eingehend und einvernehmlich diskutiert hatte, zieht ihre Zusage, an unserer Podiumsdiskussion mit der Justizministerin teilzunehmen, im letzten Moment zurück. Vonseiten der Ärztekammer, ihrer Standesorganisation, war ihr für den Fall ihrer Teilnahme mit der Aberkennung ihrer ärztlichen Zulassung gedroht worden. Mich erinnert das an den Entzug meiner kirchlichen Lehrbefugnis durch die Inquisition.
Ich selber werde nach der Diskussion in Leserbriefen für eine ungeschickte Äußerung schwer getadelt: Nachdem ich so viele Jahrzehnte mit vollem Einsatz gearbeitet hätte, wolle ich am Ende nicht »als Dorftrottel durch Tübingen« wandern. Als ob ich mich damit über Alzheimerpatienten hätte lustig machen wollen! Das Gegenteil ist der Fall: Ich denke zum Beispiel an einen Kollegen der Mathematik, der, auch von Ärzten belächelt, mit einem Namensschild auf dem Rücken täglich ein Café in der Nähe des Krankenhauses besucht und offensichtlich nicht mehr bei sich ist. Und ich denke vor allem an den berühmten Sohn unserer Stadt Tübingen, den großen Dichter FRIEDRICH HÖLDERLIN , der, nicht zuletzt aufgrund einer zerbrochenen Liebesbeziehung, früh eine geistige Zerrüttung durchmacht, im Turm am Neckar, gepflegt von LOTTE ZIMMER , der 2011 in Tübingen ein Denkmal errichtet wurde, noch fast vier Jahrzehnte lebt und bisweilen in der Stadt von Kindern verspottet wird, bis er endlich sterben darf.
Der verlorene Freund: Walter Jens
Überraschend kommt es auch bei WALTER JENS zu einer dramatischen Wende in seiner gesundheitlichen Situation: Aufgrund einer Angiopathie, einer Gefäßerkrankung im Gehirn, fällt er seit 2004 in eine sich rasch verschlimmernde Demenz – ähnlich der Alzheimerkrankheit. Vor allem für seine Frau INGE , mit der er 57 Jahre glücklich verheiratet ist, eine beinahe unerträgliche Situation. Als ihm die Krankheit das Erinnern, Denken und Sprechen geraubt hat, verkündet sein Sohn, ein Journalist, in einem großen Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« aller Welt, wie schrecklich sich diese Krankheit konkret auswirkt. Er verknüpft sogar ihren Ausbruch ohne überzeugendes Argument mit seines Vaters Verdrängung seiner gegen Kriegsende vollzogenen Mitgliedschaft in der NSDAP als 19-Jähriger. 4 Ich bin bestürzt und besuche Walter Jens am 7. März 2008, zu seinem 85. Geburtstag, zusammen mit KARL-JOSEF KUSCHEL , der ihm bei dieser Gelegenheit sein überarbeitetes Buch »Walter Jens, Literat und Protestant« überreicht, in welchem er das literarisch-theologische Œuvre von Jens zum ersten Mal im Zusammenhang darstellt. Ein Foto, das bei dieser Gelegenheit von uns aufgenommen
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