Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Medizin bewirkt: Die Frage nach dem ewigen Leben kann nicht einfach mit wissenschaftlich-medizinischen Argumenten als erledigt angesehen werden. Die Frage »Leben nach dem Tod« ist, wiewohl lange tabuisiert, auch für Mediziner eine offene Frage. Und die positiven Nahtoderfahrungen machen vielen Menschen Hoffnung, dass das Sterben, das viele Menschen mit Bangen und Furcht erwarten, in der allerletzten Phase vielleicht doch nicht so angstbesetzt verläuft wie oft befürchtet. Ich denke an den Tod meines Bruders und an den meiner Eltern zurück: Ob ihr Gesicht vielleicht deshalb so friedlich und erlöst erschien, weil alles vorbei war? Jedenfalls können diese Sterbeerlebnisse Zeichen – keine Beweise! – dafür sein, dass ein neues Sein nach dem Tod, eine Transzendenz im Tod nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.
In neun doppelstündigen Vorlesungen kann ich so im Sommersemester 1981 im Rahmen des Studium generale an der Universität Tübingen das Pro und Contra abwägen und die verschiedenen Dimensionen des Problems abschreiten. Für vieles habe ich in »Existiert Gott?« vorgearbeitet: LUDWIG FEUERBACHS Projektionstheorie, auf der die Opiumtheorie von KARL MARX und die Illusionstheorie von SIGMUND FREUD gründen, vermag nicht zu beweisen, dass ein ewiges Leben nur Projektion des Menschen, nur interessenbedingte Vertröstung, nur infantile Illusion sei. Könnte es nicht geradezu umgekehrt sein: dass die atheistische Leugnung eines ewigen Lebens auf einer Projektion beruht, die im Glauben an die gute Menschennatur (Feuerbach) oder die sozialistische Gesellschaft (Marx) oder die rationale Wissenschaft (Freud) gründet?
Mit der Heraufkunft des Atheismus, verbunden mit dem Namen Feuerbach, hat auch die Todesproblematik in der deutschen Philosophie ein erdrückendes Eigengewicht erhalten. Die Frage eines Lebens nach dem Tod, so zeige ich auf, bleibt für MARTIN HEIDEGGER offen, wird von JEAN - PAUL SARTRE entschieden negativ, von KARL JASPERS aber bedingt positiv beantwortet.
Ich behandle diese Autoren, um klarzumachen, dass jeder Mensch hier früher oder später vor die große Alternative gestellt ist, Ja oder Nein zu einem ewigen Leben zu sagen. Die negative Grundoption kommt beeindruckend deutlich in dem Gedicht »Gegen Verführung« des Atheisten BERTOLT BRECHT zum Ausdruck, das sich aber bei allem Respekt mit wenigen Korrekturen in eine Bejahung umkehren lässt.
Lasst euch nicht verführen!
Lasst euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Es gibt eine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.
Es kommt ein Morgen mehr.
Lasst euch nicht betrügen!
Lasst euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in schnellen Zügen!
Schlürft nicht in schnellen Zügen!
Es wird euch nicht genügen,
Es wird euch nicht genügen,
Wenn ihr es lassen müsst!
Wenn ihr es lassen müsst!
Lasst euch nicht vertrösten!
Lasst euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Lasst Moder den Erlösten!
Fasst Moder die Erlösten?
Das Leben ist am größten:
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.
Es steht noch mehr bereit.
Lasst euch nicht verführen!
Lasst euch nicht verführen!
Zu Fron und Ausgezehr!
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Ihr sterbt nicht mit den Tieren,
Und es kommt nichts nachher.
Es kommt kein Nichts nachher.
Ja zum ewigen Leben
Heute sind es vor allem junge Philosophen, die sich neu mit der Frage nach dem »guten Leben« auseinandersetzen. Sie haben den Mut, sich den großen Fragen des Menschen zu stellen. Dazu gehört aber auch die Frage nach dem »guten Sterben«.
In dieser letzten aller großen Fragen ist vom Menschen mehr denn je ein Akt vernünftigen Vertrauens gefordert, das natürlich auch verweigert werden kann. Ein Vertrauen, das überdies tief in der Geschichte der Menschheit verwurzelt ist. Wenn wir nicht einfach sterben »mit den Tieren«, lohnt es, vor allem auch die sehr aufschlussreichen, wenngleich sehr unterschiedlichen Antworten zu überprüfen, welche die Religionen seit dem Steinzeitalter gegeben haben: Endzustand als Sein oder »Nicht-Sein«? Ein einziges oder mehrere Leben?
Mit Sympathie lege ich die Argumente für eine Reinkarnation auf dieser Erde dar, lehne sie dann aber letztlich
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