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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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darauf, von jenem Pult aus zu sprechen, an dem ich als Luzerner Gymnasiast Furtwängler, Karajan, Kubelík und andere große Dirigenten gesehen und bewundert hatte.
    Und nun soll ich heute, 50 Jahre später, wieder über den »Glauben« sprechen – und dies in einer völlig veränderten Situation! Damals konnte ich mit großmehrheitlich kirchlich orientierten, »gläubigen« Zuhörern rechnen, heute muss ich von einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft ausgehen und insofern von vielen Kirchenfremden und in diesem Sinne »Ungläubigen«, vielleicht gar nicht einmal »Religionslosen«, sondern möglicherweise »anders Gläubigen«. Und sind nicht manche Gläubige in Wahrheit »Abergläubische«? Sie glauben an Gott, aber auch an Horoskope, schicksalbestimmende Sterne, fatale Zahlen, unglückbringende Tage … Auch »Ungläubige« sollen ja manchmal abergläubisch sein und sich keinen Tag vor ihrem Geburtstag gratulieren lassen, weil dies angeblich Unglück bringe.
    Auch unter Komponisten gibt es die unterschiedlichsten »Mischungen«: Gläubige, Ungläubige, Abergläubische. Die Beispiele sind durchaus prominent. So wissen wir aus der Biographie des rationalsten aller Komponisten, ARNOLD SCHÖNBERG , dass dieser Konstrukteur der Zwölfton-Musik vor der Zahl 13 eine geradezu panische Angst hatte. Geboren am 13. September 1874, richtete er sein ganzes Leben so ein, dass er die 13 möglichst vermied: Nie saß er in einer 13. Reihe, Termine für den 13. verschob er oder sagte sie ab, bei der Oper »Moses und Aron« ließ er im Titel lieber ein A von Aaron weg, als 13 Buchstaben im Titel zu dulden … Den 13. des Juli 1951 verbrachte der schließlich herzkranke Zwölftöner in großer Unruhe, erst nach Mitternacht soll er sein Schlafzimmer aufgesucht haben. Dort fand ihn seine Frau kurz darauf – leblos. Die Uhr des Wohnzimmers war ein paar Minuten vorgegangen. Er war also noch am 13. gestorben.
    Schönberg wusste wohl nicht, was GUSTAV MAHLER alles versucht hatte, um zunächst die Zahl 10 für seine letzte Symphonie zu vermeiden. Nach Beethovens grandioser Neunter hatten ja auch Schubert, Dvorák und Bruckner nur acht Symphonien geschrieben. Nachdem Mahler sein symphonisches »Lied von der Erde« komponiert hat, streicht er am Ende die Zahl neun und nennt daraufhin die folgende Symphonie die Neunte. »Eigentlich ist es ja die zehnte«, sagt er. Ein Jahr darauf, am 18. Mai 1911, stirbt er, und das »Lied von der Erde« wird am 20. November 1911 posthum in München von Bruno Walter uraufgeführt. Ebenso das einleitende Adagio zu einer schließlich doch noch angestrebten, aber in seiner schweren Ehekrise untergegangenen Zehnten Symphonie. Wir verstehen jetzt besser Arnold Schönbergs 1912 in seiner Prager Gedenkrede auf Mahler gesprochene Sätze: »Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht [so] aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir wohl noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.«
    Nun aber genug des Anekdotischen über Aberglauben und Ableben von Komponisten, meine Damen und Herren. Das mir gestellte Thema ist erfreulicherweise nicht der Aberglaube, sondern der Glaube , und der hat vor allem mit dem Leben zu tun. Doch möchte ich Ihnen den Glauben nicht einfach in der Verschiedenheit der Lebensformen beschreiben, wie er sich bei den verschiedenen Komponisten zeigt. Vielmehr möchte ich mich mit Ihnen fragen: Was kann man denn von einem bestimmten Komponisten in seiner Zeit an Glauben erwarten? Dass er noch immer alles glaubt, »was die Kirche zu glauben vorschreibt«, um eine katholische Katechismusantwort aus Mahlers Zeiten zu zitieren, ist ohnehin nicht zu erwarten. Zu viel des Unglaubwürdigen in Dogma und Moral hätte er da glauben müssen.
    Aber kann man denn von einem Komponisten – oder auch von einem Physiker oder Politiker oder wem immer – erwarten, dass er sich zum Glauben einer vergangenen Epoche bekennt? Das Mittelalter gilt als Zeitalter des Glaubens, den man ein für alle Mal für gesichert hält. Aber kann man einfach glauben wie im Mittelalter? Das Mittelalter wurde bekanntlich abgelöst durch die protestantische Reformation und damit durch ein radikal verändertes Verständnis von Glauben. Aber auch die Reformationszeit ist ein vergangenes Zeitalter. Folgte doch auf die Reformation die Moderne mit ihren Revolutionen in Wissenschaft und

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