Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Geklimper!«); ihm sagen freilich auch die Schweizer Alpen nichts (»immer nur Fels, Geröll, Steine!«). Er kommt eben aus dem hohen Norden, von der Waterkant, und liebt das Meer. Ich hingegen liebe das Meer und die Berge, und natürlich Mozart. Doch manche Menschen sind nun einmal un-musikalisch. Manche vielleicht auch von Hause aus un-gläubig, un-religiös, »religiös« unmusikalisch, wie man mit Max Webers Wortspiel sagen könnte.
Offensichtlich hängt es mit der geistigen Grundhaltung eines Menschen zusammen, mit seinen individuellen Erfahrungen und seiner sozialen Situation, wie er oder sie Musik hört. Die Musik lebt nun einmal nicht in den Noten und nicht in den Geigenbögen; dies sind nur ihre Zeichen und Werkzeuge. Musik lebt in den Menschen. Und es hängt beim Komponieren, bei der Wiedergabe und beim Rezipieren vom konkreten Menschen ab, welchen Gebrauch er oder sie von der Musik macht. Musik kann ja Ausdruck hemmungsloser menschlicher Emotionen sein, kann zu Animositäten, Hassausbrüchen, Gewalt anstacheln, ja sogar zum Krieg aufhetzen. Aber Musik kann auch, und dies ist sie auf einem bestimmten Niveau stets, Ausdruck vielfältigster künstlerischer Gestaltung und humaner Gefühle sein. Musik hat dann einen zutiefst friedensstiftenden, ja versöhnenden Charakter.
Sie sehen: Wie tief sich ein Mensch von der Musik ansprechen lassen will, hängt vom betreffenden Menschen ab. Musik kann als störende Dauerberieselung lästig fallen, im Supermarkt oder im Mehrfamilienhaus. Musik kann aber auch als inspirierende Kraft den Müden stärken, den Enttäuschten ermutigen, den Verzweifelten hoffen lassen. Das Erleben von Musik kann so tief gehen, dass es die ganze Existenz eines Menschen erfasst. Der irische Literaturnobelpreisträger WILLIAM BUTLER YEATS hat den Satz formuliert: »Ich glaube an die Vision des Wahren in den Tiefen des Geistes, wenn die Augen geschlossen sind« (Essay »Magie«, 13. 6. 1865). Um diesen Satz zu verstehen, muss man nicht wie Yeats von Platon begeistert sein oder an Magie glauben. Sie mögen es auch schon erlebt haben, dass Sie in höchster geistiger Anspannung die Augen geschlossen haben: etwa in Augenblicken unerträglichen Schmerzes oder aber in Momenten unbändiger Lust und Freude.
Doch können Sie eine ähnliche Erfahrung auch beim Hören von Musik mit geschlossenen Augen machen, wenn Sie bei optimaler Darstellungskraft der Interpreten bestimmte Passagen voll auf sich wirken lassen. Und da kann selbst im Konzertsaal jener magische Moment eintreten, da das Publikum absolut still im Bann der Musik atmet. So kann im Einzelnen ein Vertrauen gestärkt werden, dass es vielleicht doch noch etwas anderes gibt als diese Welt der Materie, des Geldes und der Macht, des Berechenbaren und Machbaren, eine bessere Welt, die sich noch mehr als in den Worten in den Tönen offenbart. Auf diese Weise kann sogar das aufkommen, was »die feste Zuversicht ist auf das, was man erhofft, ein Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« . Dies ist wörtlich nach dem Hebräerbrief (11,1) im Neuen Testament die Definition von Glauben : die feste Zuversicht auf das, was man erhofft, ein Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.
Aber nun schließlich die Frage, die über ein allgemeines Lebensvertrauen hinausweist: Kann ein intelligenter Mensch in einem säkularen Zeitalter noch an Gott glauben? Die Ob-Frage hängt zusammen mit der Wie-Frage: Wie heute an Gott glauben? Über beide Fragen habe ich durch all die Jahrzehnte meditiert und reflektiert und meine Antwort schließlich allgemein verständlich in meinem Buch »Was ich glaube« zusammenzufassen versucht. Ich werbe für einen im doppelten Sinn aufgeklärten Glauben , der auch über die Aufklärung aufgeklärt ist, ihre Potenzen und ihre Grenzen. Dies ist ein Glaube, der Respekt hat vor dem »Unerklärbaren«, der sich bewusst bleibt, dass die Wirklichkeit Gottes vom Menschen gedanklich nicht erfasst werden kann.
Um es ein wenig zu verdeutlichen: Solcher Glaube weiß zu unterscheiden zwischen echten Heilungswundern und legendären Naturwundern. Es ist ein Glaube, der die Jungfrauengeburt symbolisch und nicht biologisch versteht. Ein Glaube, der die apokalyptischen Schilderungen des Weltendes im Neuen Testament und im »Dies irae« des Requiems nicht als ein Drehbuch von der Menschheitstragödie letztem Akt versteht, sondern als Bilder und Erzählungen für das durch die reine Vernunft Unerforschliche, für das Erhoffte und Befürchtete,
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