Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Terminus »Postmoderne« vermeide ich zunehmend, um nicht mit der französischen literarischen Strömung des »Postmodernismus« verwechselt zu werden). Historische Tatsache ist nun einmal: Mit den beiden Weltkriegen und ihren Folgen sind die Leitwerte der Moderne – Fortschritt, Vernunft und Nation – zutiefst in Misskredit geraten. Zugleich haben neue Bewegungen – die Bürgerrechtsbewegung, die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, die ökumenische und die ökologische Bewegung – ein neues Zeitalter eingeläutet. Dies alles wird durch die Reflexionen und Diskussionen auf unserem Symposion bestätigt.
Des Weiteren aber fällt mir schon vor dem Symposion beim graphischen Skizzieren eines Schemas der verschiedenen Paradigmenwechsel des Christentums auf, wie sich von jeder epochalen Konstellation – wenn man von der ursprünglichen judenchristlichen (P I) und ihrem nur wenig beachteten Bezug zum Islam absieht – eine Linie hinunter bis in unser 20. Jahrhundert ziehen lässt: Zuerst vom altkirchlich-hellenistischen Paradigma (P II) zum heutigen orthodoxen Traditionalismus. Dann vom mittelalterlichen römisch-katholischen Paradigma (P III) zum römisch-katholischen Autoritarismus und Papalismus. Dann vom reformatorischen Paradigma (P IV) zum protestantischen Biblizismus und schließlich vom neuzeitlich-aufgeklärten Paradigma zum modernen Liberalismus … Ich nehme mir später die Zeit, Durchhalten und Widerstreit, Persistenz und Konkurrenz früherer Paradigmen im religiösen Bereich (nicht existent in der Naturwissenschaft!) genau zu analysieren und durchzudenken. Leider kann Professor THOMAS S. KUHN – ich hatte ihn eigens in Harvard besucht, um ihn einzuladen – aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. Er hatte in der Tat einen pessimistischen Eindruck auf mich gemacht, war er doch mit seiner Theorie bei den »normalen« Wissenschaftstheoretikern auf viel unverständige Kritik gestoßen. David Tracy und ich aber sorgen dafür, dass das ganze Symposion mit all seinen Vorbereitungspapieren, Referaten, Korreferaten und Bilanzen in schönen Bänden dokumentiert wird: »Theologie – wohin?« und »Das neue Paradigma von Theologie« (Zürich/Gütersloh 1984 und 1986).
Natürlich konnte ich amüsiert feststellen, wer unter den Kollegen sich ernsthaft mit der Paradigmentheorie auseinandergesetzt hatte und wer nur seine übliche Theologie darbot. Es gibt Theologen, die das Wort »Paradigma« nicht über die Lippen bringen. Aber dieses zunächst stark angefochtene Wort »Paradigma«, beziehungsweise »Paradigmenwechsel«, hat sich schließlich schon deshalb durchgesetzt, weil es keine besseren Termini gab, um die epochalen geistigen Umbrüche auf den Begriff zu bringen. Und die Zusammenfassungen, die Karl-Josef Kuschel, Martin Marty, David Tracy und ich nachträglich ausgearbeitet haben, zeigen deutlich, wie die unter uns ausgetragenen Differenzen nur möglich waren, weil sie auf einem soliden Boden der Gemeinsamkeit ausgetragen wurden.
Zwei Jahrzehnte später, in einer Festschrift zum 65. Geburtstag meines früheren Assistenten, des späteren Professors für evangelische Kirchengeschichte FRIEDHELM KRÜGER (Münster 2001), fasse ich die Paradigmentheorie in einem knappen Aufsatz »Über den Nutzen der Paradigmenanalyse für eine Geschichte des Christentums« zusammen: als »eine Einladung« an die Kirchenhistoriker! Nicht etwa um traditionelle Methoden der Kirchengeschichtsschreibung durch eine neue zu ersetzen, wohl aber um das Instrumentarium zu erweitern durch eine historisch-systematische Betrachtungsweise, die manche neue Zusammenhänge entdecken und Vergangenheit wie Zukunft in einem neuen Licht sehen lässt. Meines Wissens hat diese Einladung kaum einer aus der Historiker-Zunft aufgenommen. Dies betrübt mich nicht allzu sehr. Vermutlich braucht es auch dafür eine neue Generation von Wissenschaftlern. Und ich selber hatte ja bereits in meinem Band »Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1995) die Chance wahrgenommen, auf über 800 Seiten die verschiedenen Paradigmen des Christentums in ihrer genauen Entwicklung darzustellen. 3
Ein Problemfeld jedoch, das im Tübinger Symposion besonders von ANN CARR (Chicago) und von ELISABETH SCHÜSSLER-FIORENZA (Notre Dame) mehrfach als wichtige Dimension des neuen Paradigmas nachdrücklich zur Sprache gebracht wurde, wird für mich jetzt ein zweites Feld der Forschung sein: das neue Bewusstsein der Frau von ihrer Identität, Gleichberechtigung und
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