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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz am 22. Januar 1977 in Stuttgart-Hohenheim: den Kardinälen Höffner und Volk, Bischof Moser und dem damaligen Sekretär der Bischofskonferenz, Prälat Homeyer. Selbst mit den anwesenden Theologieprofessoren Karl Lehmann und Otto Semmelroth (anstelle von Ratzinger) erschien eine Verständigung schwierig (vgl. Bd.   2, Kap. IX: Unterschiedliche geistige Welten).
    Und so hatte mir denn schon in den 1970er-Jahren sofort eingeleuchtet, was der amerikanische Physiker und Wissenschaftstheoretiker THOMAS S. KUHN von der Harvard University über die Schwierigkeit der Verständigung schrieb zwischen denen in der Welt der Naturwissenschaften, die wie Ptolemäus Sonne, Mond und Sterne um die Erde kreisen sahen, und denen, die wie Kopernikus glaubten, ein heliozentrisches System nachgewiesen zu haben. Offensichtlich geht es hier nicht nur um zwei verschiedene astronomische Theorien, sondern um zwei unterschiedliche Denk- und Sprachwelten, ja um zwei unterschiedliche Grundkonstellationen oder Paradigmen, wie Thomas S. Kuhn das griechische Wort »Paradigma« definiert: »an entire constellation of beliefs, values, technics, and so on, shared by the members of a given community – eine Gesamtkonstellation (oder Gesamtzusammenhang) von Überzeugungen, Werten und Verfahrensweisen und so weiter, die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden.« 2
    Mit diesen Erfahrungen im Hintergrund behandle ich 1981 nun auch in Chicago die Frage: Wie kommt es zu Neuem, zu echtem Fortschritt in der Wissenschaft? Diese wissenschaftstheoretische Frage fordert mir – um auf die Höhe der gegenwärtigen Diskussionslage zu kommen – ein langes, schwieriges Studium ab. Der antimetaphysische Logische Positivismus der 1920er-Jahre war zwar schon überwunden worden von KARL POPPER , der aufweist, dass eine positive »Verifikation« (Bewahrheitung) auch naturwissenschaftlicher Sätze und Theorien (etwa dass alles Kupfer in der Welt Elektrizität leite) gar nicht möglich ist. Aber auch der Kritische Rationalismus Poppers, der durch kontinuierliche »Falsifikation« (Widerlegung) die »Logik der Forschung« (so der Titel seines Buches von 1935) auf den Begriff bringen wollte, erwies sich als ungenügend. Denn eine derart abstrakte Logik und Sprachanalyse vernachlässigt offensichtlich die konkrete Geschichte und die gesellschaftliche Gruppe, das menschliche Subjekt in aller Wissenschaftsforschung. Anstelle von Logik allein braucht es dringend eine Wissenschaftstheorie im Verbund mit Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie.
    Und genau dies leistete in einer dritten Phase der wissenschaftstheoretischen Diskussion THOMAS S. KUHN in seiner historisch-hermeneutischen Analyse der »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1962). In den grundlegenden wissenschaftlichen Neuerungen geht es ihm zufolge nicht nur um Einzelkorrekturen des geltenden Systems, sondern um die Ablösung eines wissenschaftlichen Erklärungsmodells durch ein neues: in der Astronomie etwa sukzessive das ptolemäische, das kopernikanische, das newtonsche, das einsteinsche Makromodell oder Paradigma. Schon früh kam mir die Idee, dass doch auch in der Geschichte der Theologie eine sukzessive Ablösung von Theologien feststellbar ist: des judenchristlichen, dann des griechisch-hellenistischen, weiter des lateinisch-mittelalterlichen und des reformatorischen und schließlich des aufgeklärt-modernen Erklärungsmodells. Allerdings bedurfte diese meine vage Idee der genauen systematischen Analyse, die ohne genaue Kenntnis der Theologiegeschichte nicht zu leisten war. Wichtig wurde für mich ein Vergleich theologischer Leitfiguren wie der Alexandriner Origenes, der afrikanische Lateiner Augustin, der europäisch-mittelalterliche Scholastiker Thomas von Aquin, der deutsche Reformator Luther, der moderne Theologe Schleiermacher und der nach-moderne Systematiker Karl Barth. Genau all diesen Fragen nachzugehen hatte ich nun Zeit und Lust, in Tübingen wie in Chicago.
    Aufgrund der kuhnschen Theorie lassen sich für die Naturwissenschaft wie für die Theologie folgende fünf Beobachtungen machen:
    1. In der Praxis akzeptieren Studenten bestimmte Erklärungsmodelle weniger aufgrund von strengen Beweisen als aufgrund der Autorität des Lehrbuches und des Lehrers. Ähnlich wie in der Naturwissenschaft gibt es in der Theologie eine Normalwissenschaft , die sich mit dem Lösen der verbliebenen Probleme beschäftigt. Diese

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