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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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Normalwissenschaft der »Rätsellöser« will nun einmal ihr Paradigma bestätigt sehen, will es präzisieren, absichern, ausbauen. Aber gerade deshalb setzt sie grundlegenden Veränderungen entschiedenen Widerstand entgegen, arbeitet unter Umständen auch mit Diskreditierung oder reagiert mit komplettem Verschweigen.
    2. In der Naturwissenschaft wie in der Theologie geht es nicht nur um organische Entwicklung, sondern um das wachsende Bewusstsein einer Krise . Sie ist Ausgangslage für einen einschneidenden Wandel bestimmter Grundannahmen und führt – meistens nach einer Periode der Unsicherheit – in der Regel zum Durchbruch eines neuen Deutungsmodells oder Paradigmas.
    3. In der Naturwissenschaft wie in der Theologie ist die Ablösung des alten Paradigmas jedoch erst möglich, wenn ein glaubwürdiges Nachfolgemodell, ein »Paradigmenkandidat«, bereitsteht. Es geht ja dabei nicht nur um eine Kurskorrektur, sondern um einen Kurswechsel : ein Vorgang, der sich als wissenschaftliche Umwälzung (»scientific revolution«) bezeichnen lässt. Zu beobachten ist eine grundlegende Umgestaltung der betreffenden Wissenschaft, ihrer Begriffe, Methoden, Kriterien, mit oft erheblichen gesellschaftlichen Konsequenzen (die Theologie Augustins und die lutherische Reformation sind Beispiele in der Geschichte der christlichen Theologie). Die Theologie erhält eine neue Gestalt, und dies oft bis ins Literarische hinein.
    4. Weder in der Naturwissenschaft noch in der Theologie ist ein fundamentaler Wandel ohne Widerstände, Kampf und persönliche Opfer möglich. Neben den »objektiven«, wissenschaftlichen Faktoren spielen nämlich immer auch »subjektive«, individuelle wie gesellschaftliche, eben außerwissenschaftliche Faktoren eine Rolle: Herkunft, Persönlichkeit, Milieu, Nationalität der Beteiligten sind ebenso wichtig wie die Konsequenz, Transparenz, Effizienz, auch Einfachheit und Eleganz des neuen Modells. Es geht deshalb bei einem Paradigmenwechsel oft um eine persönliche »Conversio« , die rational nicht zu erzwingen ist. Die Vertreter des alten und des neuen Paradigmas leben nämlich in verschiedenen Welten, in unterschiedlichen Denk- und Sprachwelten. Oft können sie einander kaum verstehen, da sie ihre eigenen Problemlisten, Prioritäten, Normen und Definitionen haben. Deshalb hat in der Theologie wie in der Naturwissenschaft ein neues Modell am Anfang oft nur wenige, meist jüngere Befürworter.
    5. In der Theologie wie in der Naturwissenschaft gibt es drei Auswege aus der Krise: Das vorgeschlagene neue Paradigma wird ins alte absorbiert, oder die Entscheidung wird verschoben und das neue Paradigma »auf Eis gelegt«, oder aber das neue Paradigma wird akzeptiert, und mit der Zeit verfestigt sich die Innovation zur Tradition.
    Doch ist dies alles nur eine Seite der Problematik: die Parallelen. Im Gegenzug arbeite ich nun auch den wesentlichen Unterschied zwischen der Entwicklung der Naturwissenschaft und der Theologie heraus: Theologie ist – ähnlich wie die Rechts- oder Geschichtswissenschaft – ganz anders als die Naturwissenschaft an der Kontinuität interessiert. Das ursprüngliche Glaubenszeugnis von Jesus Christus bildet für christliche Theologie nun einmal die nicht ablösbare Basis . Sie ist für den Theologen so etwas wie für den Staatsrechtler die Verfassung. Und insofern ist die christliche Theologie nicht nur wie die Naturwissenschaft gegenwarts- und zukunftsbezogen. Sie ist auch ursprungsbezogen.
    Von daher lassen sich die genannten fünf Analogien genau differenzieren, was hier jedoch nicht ausgeführt werden kann. Nur muss stets darauf Gewicht gelegt werden, dass für jedes neue Paradigma christlicher Theologie immer zwei Konstanten bestehen bleiben: Einerseits ist die gegenwärtige Erfahrungswelt als Horizont ernst zu nehmen, andererseits bleibt die christliche Botschaft der unabdingbare Maßstab .
    Was ich hier in schematischen Umrissen trocken skizziert habe, hat natürlich zahlreiche inhaltliche Implikationen und praktische Konsequenzen, die von Kundigen zu diskutieren sind. Dies bringt mich nun auf den kühnen Gedanken, die Theologen von Chicago mit den Theologen der Internationalen Zeitschrift »Concilium« zusammenzuführen zu einem Symposion, und zwar in Tübingen. Thema: »Ein neues Paradigma von Theologie?«
    Die Troika Tübingen – Chicago – »Concilium«
    Unter den Theologen der Chicago Divinity School finde ich gerade für diese Thematik hervorragende Gesprächspartner: neben dem

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