Erlösung
betäuben, zu vergessen und einfach weiterzumachen.
Er hatte getötet, aber das hatte er niemandem gesagt. Es war nur ein schneller Treffer gewesen. Nicht einmal seine Kameraden hatten es gesehen. Eine Leiche, weit weg von all den anderen, das war seine Leiche. Genau in die Luftröhre getroffen und ziemlich jung. Bei ihm war das furchteinflößende Kennzeichen der Taliban-Krieger nur ein bisschen Flaum an Kinn und Wangen.
Nein, das hatte er niemandem gesagt, nicht einmal Mia.
Wenn man atemlos vor Verliebtheit ist, fällt einem so etwas nicht als Erstes ein.
Als er Mia zum ersten Mal sah, war ihm klar, dass sie ihn dazu bringen könnte, bedingungslos zu kapitulieren.
Sie hatte ihm tief in die Augen geschaut, als er ihre Handnahm. Schon da war es um ihn geschehen gewesen, und er hatte sich ihr vollkommen ergeben. Tief verborgene Sehnsüchte und Hoffnungen waren plötzlich ans Licht gekommen. Und sie hatten sich mit allen Sinnen zugehört und wussten, das konnte nicht das letzte Mal gewesen sein.
Sie hatte gezittert, als sie ihm erzählte, wann sie ihren Mann zurückerwartete. Auch sie war bereit, ein neues Leben anzufangen.
Am Samstag hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Er war spontan vorbeigekommen. Mit der Zeitung unterm Arm, wie sie es abgesprochen hatten.
Sie war allein, wirkte aber trotzdem aufgelöst, ließ ihn nur ungern eintreten und wollte ihm nicht sagen, was passiert war. Offenbar wusste sie auch noch nicht, was der Tag bringen würde.
Hätten sie wenige Sekunden mehr Zeit gehabt, dann hätte er sie gebeten, mit ihm zu kommen. Das Nötigste zu packen, Benjamin auf den Arm zu nehmen und wegzugehen.
Sie hätte Ja gesagt, wenn ihr Mann nicht in dem Augenblick in die Einfahrt gefahren wäre, davon war er überzeugt. Und zu Hause bei ihm hätten sie Zeit gehabt, gemeinsam all die Knoten in ihren verkorksten Leben zu lösen.
Stattdessen hatte er Hals über Kopf verschwinden müssen. Durch die Hintertür. Wie ein scheuer Hund war er im Dunkeln verschwunden. Ohne sein Fahrrad.
Seither hatte ihn der Gedanke daran nicht eine Sekunde losgelassen.
Inzwischen waren drei Tage vergangen. Jetzt war Dienstag, und seit der unangenehmen Überraschung vom Samstag war er mehrfach beim Haus gewesen. Er hätte ohne weiteres Mias Mann begegnen können. Aus heiterem Himmel hätten Unannehmlichkeiten entstehen können. Aber er hatte keine Angst mehr vor anderen Menschen, nur Angst vor sich selbst. Dennwas würde er mit dem Mann anstellen, wenn sich zeigte, dass er Mia etwas zuleide getan hatte?
Aber als er hinging, war das Haus leer, ebenso wie das Mal darauf. Und trotzdem zog ihn die ganze Zeit etwas dorthin. Eine Ahnung erwachte in ihm und wurde immer stärker. Wie dieser Instinkt, der ihn gewarnt hatte, als einer seiner Freunde auf eine Gasse zusteuerte, in der wenige Sekunden später zehn der Ortsansässigen getötet wurden. Er hatte einfach gewusst, dass sie nicht in diese Straße hineingehen durften, genau wie er jetzt wusste, dass sich in diesem Haus Geheimnisse verbargen, die nie ans Licht kämen, wenn er nicht nachhalf.
Deshalb stand er vor der Haustür und rief ihren Namen. Wären sie in Urlaub gefahren, hätte sie ihm davon erzählt. Wäre sie nicht mehr an ihm interessiert gewesen, hätten ihre Augen nicht so geglänzt und wären ihm ausgewichen.
Nein, sie war an ihm interessiert, und nun war sie verschwunden. Sie ging nicht einmal ans Handy. In den ersten Stunden glaubte er, sie wagte nicht, abzunehmen, weil sich ihr Mann in der Nähe aufhielt. Dann redete er sich ein, der Mann habe ihr das Handy weggenommen und wüsste, wer er war.
Soll er doch kommen, wenn er weiß, wo ich wohne, sagte er zu sich. Das würde ein ungleicher Kampf.
Dann war der gestrige Tag gekommen, und da beschlich ihn zum ersten Mal das Gefühl, die Antwort könnte ganz anders lauten.
Denn ihn hatte ein Laut überrascht, und der Soldat in ihm hatte gelernt, auf überraschende Laute zu reagieren. Töne mochten noch so schwach sein, manchmal signalisierten sie, dass binnen Sekunden alles anders aussehen konnte. Töne konnten Tod bedeuten, wenn man sie nicht beachtete.
Einen solchen Ton hörte er, als er vor ihrem Haus stand und ihr Handy anrief.
Das Handy, das hinter dem Mauerwerk schwächer als schwach klingelte.
Da hatte er sein Handy zugeklappt und gelauscht. Jetzt war nichts mehr zu hören.
Er hatte noch einmal Mias Nummer eingegeben und einen Moment gewartet. Da kam der Ton wieder. Ihr Handy, das er eben gerade
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