Erlösung
angerufen hatte, lag irgendwo hinter diesen geschlossenen Dachfenstern und klingelte.
Er hatte einen Augenblick dort gestanden und überlegt.
Natürlich war es möglich, dass sie es absichtlich zurückgelassen hatte. Aber das glaubte er nicht.
Sie nannte es ihre Rettungsleine zum Rest der Welt, und eine solche Rettungsleine kappte man nicht ohne weiteres.
Das wusste er aus eigener Erfahrung.
Seither war er noch einmal da gewesen und hatte das Handy dort oben hinter dem Velux-Fenster über der Haustür gehört. Nichts Neues. Warum dann dieser hartnäckige Verdacht, dass etwas nicht stimmte?
War das der Soldat in ihm, der Gefahr witterte? Oder war es nur die Verliebtheit, die ihn blind machte für die Möglichkeit, er könnte in ihrem Leben bereits ein abgeschlossenes Kapitel sein?
Trotz aller Fragen und aller denkbaren Antworten ließ ihn dieses Gefühl auch weiterhin nicht los.
Im Haus gegenüber saßen zwei alte Menschen hinter den Gardinen und beobachteten ihn. Sobald er Mias Namen rief, waren sie da. Vielleicht sollte er sie fragen, ob sie etwas gesehen hatten?
Es dauerte, ehe sie öffneten, und sie waren offensichtlich nicht erfreut, ihn zu sehen.
Ob er die Familie auf der anderen Seite nicht endlich in Ruhe lassen könnte, fragte die Frau.
Er versuchte zu lächeln und zeigte ihnen dann, wie sehr seine Hände zitterten. Zeigte, wie viel Angst er hatte und wie sehr er sich Hilfe wünschte.
Sie sagten, der Mann sei in den letzten Tagen mehrmalszu Hause gewesen. Auf jeden Fall habe sein Mercedes dort gestanden, aber die Frau und das Kind hätten sie schon einige Tage nicht mehr gesehen.
Er dankte ihnen, bat sie, ein bisschen darauf zu achten, was passierte, und gab ihnen seine Telefonnummer.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wusste er, dass sie nicht anrufen würden. Schließlich war das nicht seine Frau.
Ein letztes Mal gab er ihre Nummer ein, und ein letztes Mal klingelte es oben in dem Zimmer.
Mia, wo bist du?, dachte er, zunehmend beunruhigt.
Ab morgen wollte er mehrfach täglich am Haus vorbeigehen.
Falls nichts passierte, das ihn wieder beruhigte, wollte er die Polizei informieren.
Nicht, weil er etwas Konkretes in der Hand gehabt hätte.
Aber was konnte er sonst tun?
35
Federnder Gang. Ein maskulines Gesicht mit Falten an den richtigen Stellen. Offenkundig teure Garderobe.
Neben dieser genialen Kombination fühlte sich Carl wie etwas, das die Katze ins Haus geschleppt hatte.
»Also, das ist Kris«, stellte Mona den Mann vor und erwiderte Carls Andeutung einer Umarmung etwas zu knapp.
»Kris und ich waren zusammen in Darfur. Kris ist Spezialist für Kriegstraumata und arbeitet viel für Ärzte ohne Grenzen, nicht wahr, Kris?«
Sie sagte »wir waren zusammen in Darfur«. Nicht »wir haben zusammen in Darfur gearbeitet«. Um zu verstehen, was das hieß, musste man kein verdammter Psychologe sein. Er hasste den parfumstinkenden Lackaffen schon jetzt.
»Ich bin einigermaßen gut über den Fall informiert«, sagte Kris und zeigte etwas zu regelmäßige, etwas zu weiße Zähne. »Mona hat sich bei ihren Vorgesetzten rückversichert, dass sie mich unterrichten durfte.«
Bei ihren Vorgesetzten rückversichert, was für ein Scheiß ist das denn?, dachte Carl. Wie wär’s, mich zu fragen?
»Ist das für Sie auch okay?«
Na, das kam jetzt ein bisschen spät. Er sah zu Mona, die Kris’ Worte mit einem entzückenden Lächeln herunterspielte. Also echt!
»Ja, natürlich«, antwortete er. »Ich hab volles Vertrauen, dass Mona tut, was für alle das Beste ist.«
Er lächelte den Mann an und Mona bemerkte es. Gutes Timing.
»Man hat mir dreißig Stunden bewilligt, um Sie wieder indie Spur zu bringen. Ich hab Ihren Chef so verstanden, dass Sie Gold wert sind.« Er lachte leicht. Also bekam er sicher zu viel für die Stunde.
»Dreißig Stunden, sagen Sie?« Sollte er mit diesem Großmaul alles in allem mehr als zwei volle Tage zusammenhocken? Hatte der nicht alle Latten am Zaun?
»Na, wir müssen natürlich erst mal sehen, wie hart es Sie getroffen hat. Aber dreißig Stunden sind in den meisten Fällen reichlich genug.«
»Ach ja?«
Das darf doch alles nicht wahr sein, dachte Carl.
Sie setzten sich vor ihn. Mona mit ihrem wunderbaren Lächeln.
»Wenn Sie an Anker Høyer, Hardy Henningsen und sich selbst dort draußen in dieser Baracke auf Amager denken, wo Sie angeschossen wurden, welches Gefühl überkommt Sie dann als Erstes?«
Carl lief es eiskalt über den Rücken. Was er
Weitere Kostenlose Bücher