Erlösung
schlaff herunterhingen. Noch keine drei Wochen war es her, seit er sie an dem Ast der Birke aufgehängt hatte. Damals hatte er an den bevorstehenden Sommer gedacht und sich vorgestellt, wie sie beide ihrem kleinen Jungen Anschwung geben würden. Damit war es nun vorbei. Im Sandkasten lag ein rotes Plastiklöffelchen. Als er es aufhob, spürte er, wie ihn die Traurigkeit zu übermannen drohte. Ein Gefühl, das er zuletzt als Junge verspürt hatte.
Er setzte sich auf die Gartenbank und schloss einen Moment die Augen. Noch vor kurzem hatte es hier nach Rosen geduftet und der Nähe einer Frau.
Er meinte noch die Ärmchen des Kindes um seinen Hals zu spüren, die ruhigen Atemzüge an seiner Wange, und er erinnerte sich an die stille Freude, die er dabei empfand.
Schluss damit, was soll diese blöde Sentimentalität!, ermahnte er sich und schüttelte den Kopf. Das war Vergangenheit. Wie alles andere auch.
Dass sich sein Leben so entwickelt hatte, dafür konnte er sich bei seinen Eltern bedanken. Bei seinen Eltern und dem Stiefvater. Aber er hatte sich vielfach gerächt. Hatte zugeschlagen bei Leuten, die aus genau dem gleichen Holz geschnitzt waren. Etliche Male. Was gab es da zu bereuen?
Nein. Kämpfe verlangten Opfer. Und mit seinen Opfern musste man leben.
Er warf den Plastiklöffel ins Gras und stand auf. Dort draußen warteten neue Frauen. Benjamin würde schon eine passende Mutter bekommen. Wenn er all seine Sach- und Vermögenswerte verkaufte, würde es bestimmt für ein gutes Leben irgendwo auf der Welt reichen. Zumindest so lange, bis er seine Mission fortsetzen und wieder Geld verdienen konnte.
Im Augenblick jedoch galt es, der Realität ins Auge zu sehen und entsprechend zu handeln.
Isabel lebte und würde genesen. Ihr Bruder war Polizist und streunte, wie er wusste, bei ihr im Krankenhaus herum. Darin lag die größte Bedrohung. Er kannte diese Typen. Die hatten ihre eigene Mission, und die hieß: ihn finden.
Auch die Krankenschwester, die er niedergeschlagen hatte, würde sich an ihn erinnern. Künftig würde sie jedes Mal zusammenzucken, wenn sie einem Menschen gegenüberstand, der ihr fremd war und dessen Blick sie nicht deuten konnte. Ihr Vertrauen in andere Menschen hatte einen Knacks bekommen. Von allen Menschen auf der Welt würde sie ihn mit Sicherheit nie vergessen. Das Gleiche dürfte für die Sekretärin gelten. Aber die beiden fürchtete er nicht.
Letztlich hatten sie nämlich keine Ahnung, wie er aussah.
Er stellte sich vor den Spiegel und betrachtete sein Gesicht, während er sich abschminkte.
Er würde schon zurechtkommen. Wenn jemand die menschlichen Wahrnehmungsmuster durchschaute, dann er. Hatte man Falten im Gesicht und waren die tief genug, erinnerten sich die Menschen lediglich an diese Falten. War der Blick hinterden Brillengläsern nur starr genug, wurde man ohne Brille nicht wiedererkannt.
Hatte man eine hässliche große Warze am Kinn, fiel die allen Leuten auf. Ließ man sie entfernen, merkte das keiner.
Manches taugte also als Verkleidung, anderes nicht. Aber eines war sicher: Die beste Verkleidung war diejenige, die einen ganz und gar gewöhnlich aussehen ließ. Denn dieses Gewöhnliche ließ sich nicht registrieren. Und darin war er Spezialist. Platzierte man die Falten an den richtigen Stellen, schminkte man Schatten um die Augen, manipulierte die Augenbrauen, kämmte den Scheitel auf die andere Seite und suggerierte über die Hautfarbe und den Zustand der Haare ein gewisses Alter und einen bestimmten Gesundheitszustand, dann wurde man zu einem völlig neuen Menschen.
Heute hatte er sich als Herr Irgendwer geschminkt. Sie würden sich an sein Alter erinnern, an seinen Dialekt und an die dunkle Brille. Aber ob seine Lippen schmal waren oder voll, die Wangenknochen flach oder markant, dessen würden sie sich nicht entsinnen, ganz sicher nicht. Natürlich würden ihnen gewisse Gesichtszüge im Gedächtnis bleiben, wie überhaupt der ganze Vorfall. Aber nie und nimmer würde das reichen, um ihn zu identifizieren.
Sollten sie doch Nachforschungen anstellen, so viel sie wollten, sie würden nichts Brauchbares finden. Ferslev und den Lieferwagen gab es nicht mehr, und bald war auch er weg. Exit für einen gewöhnlichen Mann in einem gewöhnlichen Wohnviertel von Roskilde, für einen Mann in einem Einfamilienhaus, von denen es eine Million in diesem kleinen Land gab.
In wenigen Tagen, wenn Isabel sprechen konnte, würden sie zwar wissen, was dieser Mann in all den Jahren
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