Erlösung
diese Müdigkeit.
Auf einmal jagte ein Schmerz durch ihre Brust. Ein Stich, wie aus heiterem Himmel und so schmerzhaft, dass sie die Augen aufriss. Es war dunkel geworden. Nun ist der Tag also vergangen. Mein letzter Tag, schoss es ihr im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf.
Alle Muskeln im Brustkorb zogen sich um ihr Herz zusammen, und sie hörte sich stöhnen. Spürte, wie sich die Finger im Krampf streckten und die Gesichtsmuskeln erstarrten.
O Gott, tut das weh! O Gott, lass mich doch endlich sterben!, betete sie immer wieder. Da durchzuckte sie ein Schmerz, der noch stechender war als alle anderen, und danach – Stille.
Sekundenlang war sie überzeugt, dass ihr Herz stehen geblieben war. Sie wartete tatsächlich darauf, nun ein für alle Mal von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Da öffnetesich ihr Mund in dem krampfhaften Versuch, ein letztes Mal die Lungen zu füllen, und sie japste nach Luft. Und dieses Japsen pflanzte sich bis zu dem winzigen Punkt in ihrem Innern fort, wo sich der letzte Rest von Selbsterhaltungstrieb verbarg.
In den Schläfen spürte sie ihren Puls. Auch in den Unterschenkeln. Noch war der Körper zu stark, um nachzugeben. Gott war mit seinen Prüfungen noch nicht zu Ende.
Und die Furcht vor seinem nächsten Zug ließ sie beten. Ein Stoßgebet, es möge nicht zu sehr wehtun und es möge schnell gehen.
Da hörte sie, wie ihr Mann die Tür öffnete und ihren Namen rief. Aber die Zeit, in der sie eine Antwort hätte formulieren können, war längst um. Was hätte es auch genutzt?
Sie spürte, wie es reflexartig in ihrem Mittel- und Zeigefinger zuckte. Spürte, wie sie an das Loch im Karton über ihr stießen, wie die Nagelspitze dieses kleine metallene Etwas berührte. Immer noch genauso glatt und unwirklich. Bis sie in einem Krampf, der alle Finger erfasste, der sie zittern und erstarren ließ, urplötzlich merkte, dass es in der glatten, kühlen Oberfläche eine kleine v-förmige Öffnung gab.
Sie bemühte sich, rational zu denken. Bemühte sich, zu trennen. Nervenimpulse vom Darm, der die Tätigkeit längst eingestellt hatte, von Zellen, die nach Flüssigkeit schrien, von der Haut, die ihre Empfindlichkeit verloren hatte – nichts von alledem sollte das Bild stören, von dem sie spürte, dass sie es verstehen musste. Das Bild eines kleinen metallischen Gegenstandes mit v-förmiger Öffnung.
Sie döste weg. Da war wieder dieses Nichts, das ihr Gehirn mehr und mehr ausfüllte. Diese Leere, die sie in immer kürzeren Abständen überfiel.
Aber dann überstürzten sich die Bilder förmlich. Bilder von glatten Gegenständen. Die Menütaste ihres Handys, das Uhrenglas ihrer Armbanduhr, der Spiegel in ihrem Toilettenschrank,alles tauchte auf und entwischte ihr wieder. Alles Glatte, das sie je in ihrem Leben bemerkt hatte, kämpfte um einen vorderen Platz in ihrem Bewusstsein. Und dann stand er vor ihr. Dieser Gegenstand, den sie selbst nie benutzt hatte, den aber damals, als sie ein Kind war, Männer stolz aus der Tasche zogen. Offenbar hatte auch ihr Mann dieses Statussymbol besessen. Und nun lag es da, das Ronson-Feuerzeug mit dem V, auf dem Boden eines Kartons, in den es achtlos geworfen worden war – vielleicht einzig und allein zu dem Zweck, jetzt für sie da zu sein. Da zu sein, um ihre Gedanken anzustoßen, ja vielleicht sogar, um eine neue, schnelle Lösung für das Ende ihres Lebens anzuregen.
Hauptsache, ich bekomme es heraus! Hauptsache, es funktioniert noch und meine Finger machen mit! Dann könnte sein gesamter Besitz mit mir verschwinden.
Irgendwo in ihrem Innern lächelte sie. Der Gedanke war auf sonderbare Weise belebend! Wenn alles verbrannte, dann hätte sie zumindest eine Spur hinterlassen. Dann hätte sie eine Distel in sein Leben gepflanzt, die er niemals vollständig würde ausrotten können. Er würde das verlieren, wofür er seine Verbrechen begangen hatte.
Was für eine Nemesis!
Sie hielt die Luft an und kratzte wieder an der Pappe und stellte zum ersten Mal fest, wie hart so etwas sein konnte. Wie irrsinnig hart. Immer wieder kratzte und schabte sie winzige Stücke ab. Wie die Wespe, die sie am Holz ihres Gartentischs beobachtet hatte. Sie stellte sich vor, wie der Papierstaub an ihrem Gesicht vorbeirieselte. Stecknadelkopfgroße Partikel. Das Loch musste groß genug werden, damit das Feuerzeug herausrutschen und mit etwas Glück in ihre Hand fallen konnte.
Als das Loch am Ende tatsächlich so groß war, dass sich das Feuerzeug
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