Erlösung
Bruder verstanden haben, war sie schwer krank.« Sie bekreuzigte sich. »Und mein Bruder hat eine düstere Persönlichkeit. Deshalb befürchte ich, dass er Benjamins Mutter nach ihrem Tod dort oben hin gefolgt sein könnte.«
»Bisher haben wir nicht herausfinden können, wer Benjamins Mutter ist. Auf der Geburtsurkunde, die Sie uns gegeben haben, ist die Personennummer völlig unleserlich. Kann es sein, dass die Urkunde nass geworden ist?«
Sie zuckte die Achseln.
»Ja, möglich. So sah sie jedenfalls schon aus, als wir sie bekommen haben«, ergänzte ihr Mann, der in der Ecke saß.
»Anscheinend haben Benjamins Eltern nur zusammengelebt. Aus der Personennummer ihres Bruders ist jedenfalls nicht zu ersehen, dass er jemals verheiratet gewesen ist. Aus dem Tun und Lassen Ihres Bruders wird man insgesamt nicht recht schlau. Wir wissen einzig und allein, dass er sich vor Jahren um Aufnahme ins Jägerkorps bemüht hat. Aber seither scheinen sich alle Informationen, die ihn betreffen, in Nichts aufzulösen.«
»Ja.« Sie nickte. »Wie schon gesagt, er hat eine düstere Persönlichkeit. Selbst uns hat er über sein Leben nie etwas anvertraut.«
»Aber er hat Ihnen doch Benjamin anvertraut.«
»Ja.«
»Benjamin und Eva«, sagte der Junge und rutschte auf den Fußboden.
Sie hörte, wie er auf dem Teppich voranstolperte.
»Mein Auto«, sagte er. »Großes Auto. Auto schön.«
»Ja, wir können sehen, wie wohl er sich fühlt«, sagte die dunkle Stimme. »Für sein Alter ist er wirklich weit.«
»Ja, er gleicht seinem Großvater. Unser Vater war ein sehr kluger Mann.«
»O ja, Eva, über Ihren Hintergrund wissen wir gut Bescheid. Ich weiß, dass Ihr Vater nicht weit von hier Pfarrer war. Soweit ich sehen kann, war er sehr beliebt.«
»Evas Vater war ein phantastischer Mann.« Das war wieder Willy im Hintergrund. Eva lächelte. Er sagte das immer, obwohl er ihm nie begegnet war.
»Mein Teddy«, sagte Benjamin. »Teddy auch schön. Teddy hat blaue Schleife.«
Alle lachten.
»Unser Vater hat uns christlich erzogen«, fuhr Eva fort. »Willy und ich haben uns vorgenommen, Benjamin in seinem Geist zu erziehen, falls die Behörden uns die Möglichkeit geben, ihn bei uns zu behalten. Wir wollen uns daran orientieren, wie unser Vater das Leben sah.«
Sie spürte, dass den beiden Damen das sehr recht war. Die Stille wirkte fast herzlich.
»Sie müssen an einem Vorbereitungskurs für adoptionswillige Eltern teilnehmen, der findet an zwei Wochenenden statt. Erst danach beraten wir endgültig, ob wir Ihrem Antrag stattgeben. Man weiß ja nie, wie es dort läuft. Aber man kann wohl sagen, dass Sie beide bei den ganz großen Fragen, um die es im Leben geht, doch mehr als die meisten …«
Sie spürte, wie sie innehielten. Als wiche plötzlich alle Wärme, alle Herzlichkeit aus dem Raum. Selbst Benjamin unterbrach sein Spiel.
»Da«, sagte er. »Blaues Licht. Blaues Licht blinkt.«
»Ich glaube, die Polizei hält draußen auf dem Hof«, sagte Willy. »Ob es einen Unfall gegeben hat?«
Eva dachte, das könnte etwas mit ihrem Bruder zu tun haben. Dachte so, bis sie die Stimmen draußen auf dem Flur hörte und den Protest ihres Mannes, der zunehmend wütend wirkte.
Dann hörte Eva Schritte im Zimmer und wie die beiden Damen aufstanden und zurücktraten.
»Mia Larsen, ist er das?«, fragte eine ihr unbekannte Männerstimme.
Es wurde geflüstert. Worum es ging, konnte sie nicht verstehen. Es klang, als erklärte ein Mann den beiden Damen, mit denen sie gerade gesprochen hatte, irgendetwas.
Draußen auf dem Flur begann Willy lauter zu schimpfen. Warum kam er nicht herein?
Dann hörte sie jemanden weinen, eine jüngere Frau. Erst von weitem, dann aus der Nähe.
»Im Namen Gottes, was geht hier vor?«, fragte sie in den Raum hinein.
Sie spürte, wie Benjamin zu ihr kam. Wie er ihre Hand ergriff und ein Knie auf ihr Bein legte. Da zog sie ihn auf den Schoß.
»Eva Bremer, wir sind von der Polizei in Odense, und wir kommen mit Benjamins Mutter, die den Jungen gern mit sich nach Hause nehmen will.«
Sie hielt die Luft an. Betete zu Gott, sie mögen allesamt verschwinden. Betete, er möge sie aus diesem Albtraum aufwachen lassen.
Sie kamen näher, und nun hörte sie, wie die Frau mit Benjamin sprach.
»Hallo, Benjamin«, hörte sie. Die Stimme zitterte. Eine Stimme, die nicht hier sein sollte. Weg damit, sie sollte weggehen.
»Kennst du Mama nicht mehr?«
»Mama«, sagte Benjamin. Er schien sich zu fürchten und
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