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Erlösung

Erlösung

Titel: Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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dem Arm, als das Handy auf dem Tisch anfing, sich verräterisch um sich selbst zu drehen. Dieses kleine, stets in Reichweite befindliche Tor zur Welt.
    »Hallo, Schatz!«, sagte sie betont munter, aber der Puls hämmerte in ihren Ohren.
    »Ich hab mehrfach versucht, dich zu erreichen. Warum hast du nicht zurückgerufen?«
    »Das wollte ich gerade«, rutschte es ihr heraus. Ach, da hatte er sie schon.
    »Ja, aber du musst doch gleich mit Benjamin aus dem Haus. Es ist eine Minute vor acht. Ich kenne dich doch.«
    Sie hielt die Luft an und setzte den Jungen vorsichtig auf denBoden. »Er ist ein bisschen krank. Und du weißt ja, sie wollen nicht, dass die Kinder in die Krippe kommen, wenn der Rotz grün ist. Ich glaube, er hat etwas Fieber.« Sie atmete ganz langsam ein, dabei schrie ihr Körper geradezu nach Sauerstoff.
    »Ah ja.«
    Die Pause, die entstand, gefiel ihr gar nicht. Erwartete er, dass sie etwas sagte? Hatte sie etwas vergessen? Sie versuchte sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Irgendetwas außerhalb der Doppelscheiben. Auf das Gartentor, das der Wind leicht bewegte. Auf die kahlen Äste. Auf die Leute, die auf dem Weg zur Arbeit vorbeihasteten.
    »Ich habe gestern mehrmals angerufen. Hast du gehört, dass ich das sagte?«, fragte er.
    »Ach ja. Entschuldige, Schatz, mein Handy war tot. Ich glaube, wir müssen bald mal in einen neuen Akku investieren.«
    »Ich habe beide Akkus erst am Dienstag aufgeladen.«
    »Ja, merkwürdig, normalerweise hält meiner länger.«
    »Und jetzt hast du ihn selbst aufgeladen? Das hast du hingekriegt?«
    »Ja, stell dir vor.« Sie bemühte sich, unbeschwert zu lachen, aber es klang gekünstelt. »Ich habe dir ja oft genug dabei zugesehen.«
    »Ich dachte, du weißt nicht mal, wo das Ladegerät liegt.«
    »Doch, doch.« Nun zitterten ihre Hände. Er ahnte, dass etwas nicht stimmte. Im nächsten Augenblick würde er fragen, wo sie denn das verdammte Ladegerät gefunden habe, und sie hatte doch keine Ahnung, wo es lag.
    Denk! Denk schnell!, rasten ihr die Gedanken durch den Kopf.
    »Ich   …«, sie hob die Stimme. »O nein, Benjamin. Nein, das geht nicht!« Sie stupste das Kind mit dem Fuß an, sodass es einen Ton von sich gab. Dann sah sie Benjamins tränenglitzernde Augen und stieß ihn noch einmal.
    Und als die Frage kam: »Und wo hast du es gefunden?«, fing der Junge endlich an zu weinen.
    »Oje, tut mir leid, wir müssen später weitersprechen«, sagte sie und bemühte sich, aufgeregt zu klingen. »Benjamin hat sich gerade den Kopf gestoßen.«
    Sie klappte das Handy zusammen, hockte sich vor ihren Sohn und zog ihm den Overall aus. Dann küsste sie ihn auf die Wange und redete beruhigend auf ihn ein. »Mein Süßer, es tut mir so leid, entschuldige, bitte entschuldige. Mama hat dich aus Versehen ein bisschen geschubst. Tut’s noch weh? Magst du einen Keks?«
    Und das Kind schniefte und verzieh und nickte verwirrt und mit trauriger Miene. Sie hielt ihm ein Bilderbuch hin, während die Katastrophe langsam in ihrem ganzen Ausmaß zu ihr vordrang: Das Haus hatte dreihundert Quadratmeter, und das Ladegerät konnte in jedem nur erdenklichen Hohlraum liegen, er brauchte nur so groß zu sein wie eine Faust.
     
    Eine Stunde später gab es nicht ein Schubfach, kein Möbelstück, kein Regal im Erdgeschoss, das sie nicht durchsucht hatte.
    Und wenn sie nun nur dieses eine Ladegerät hatten?, fiel es ihr schlagartig ein. Und wenn er das nun mitgenommen hatte? War sein Handy überhaupt von derselben Marke wie ihres? Sie hatte keine Ahnung.
    Mit gerunzelter Stirn saß sie neben Benjamin und fütterte ihn. O Gott, dachte sie. Er hat das Ladegerät mitgenommen.
    Sie schüttelte den Kopf und fuhr ihrem Sohn mit dem Löffel über den verschmierten Mund. Nein, wenn man ein Handy kaufte, dann erhielt man auf jeden Fall auch ein Ladegerät dazu. Selbstverständlich. Und deshalb lag garantiert irgendwo der Karton von ihrem Handy mit der Gebrauchsanweisung und vermutlich auch mit einem unbenutzten Ladegerät herum. Nur nicht hier im Erdgeschoss.
    Sie sah zur Treppe in den ersten Stock.
    Es gab Zimmer in diesem Haus, die sie so gut wie nie betrat. Nicht weil er es ihr verbot, das nicht. Aber so war es einfach. Dafür kam er auch nie in ihr Nähzimmer. Sie hatten beide ihre Interessen und Oasen und Zeiten für sich ganz allein. Nur dass er davon einfach wesentlich mehr hatte als sie.
    Da nahm sie ihren Sohn auf den Arm, ging die Treppe hinauf und stand eine Weile unschlüssig vor der Tür zu

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