Erlösung
anerkennend. »Du hast ja recht, Assad. Nimm sie herunter und häng sie an die Wand neben deine tollen Fälle mit all den Paketschnüren. Aber lass ein paar Meter Platz dazwischen, okay?«
Mit einer gewissen Andacht betrachtete Carl das Original. Selbst wenn der Brief im Laufe der Jahre durch viele Hände gewandert war und nicht alle im Haus ihn für ein relevantes Beweisstück hielten, wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, auf die Baumwollhandschuhe zu verzichten.
Das Papier war so mürbe und fragil. Und wenn man ganz allein vor dem Dokument saß, so wie er jetzt, dann ging davon etwas Seltsames aus, etwas, worauf Carl immer schon sehr empfänglich reagiert hatte. Marcus Jacobsen nannte diese Empfänglichkeit »Carls Nase«, der alte Bak hatte »Bauchgefühl« dazu gesagt, seine Fast-Exfrau sprach ganz simpel von »Intuition«. Jedenfalls ging von diesem verdammten kleinen Zettel etwas aus, das in Carls Innerem fast so etwas wie ein Kribbeln verursachte. Die Authentizität des Dokuments leuchtete ihm förmlich entgegen. In höchster Eile angefertigt. Vermutlich auf schlechter Unterlage. Mit Blut und einem unbekannten Schreibutensil geschrieben. Konnte es eine Feder sein, in Blut getaucht? Nein, eher nicht. Die Striche waren zu ungleichmäßig, zu unkontrolliert. An manchen Stellen wirkte es, als sei zu fest aufgedrückt worden, an anderen fehlte die Farbe fast ganz. Carl holte die Lupe hervor und versuchte, ein Gefühl für die Vertiefungen und Unebenheiten zu bekommen. Aber das Dokument war zu mitgenommen. Was einmal Vertiefungen gewesen waren, hatte die Feuchtigkeit womöglich aufquellen lassen und umgekehrt.
Er sah Roses grübelndes Gesicht vor sich und legte das Papier zur Seite. Morgen würde er ihr sagen, dass sie den Rest der Woche, wenn es denn unbedingt sein müsse, noch für den Brief verwenden könne. Aber danach müsse sie wieder an die Arbeit.
Er überlegte, ob er Assad wohl zum Brauen seiner Zuckermasse motivieren sollte. Aber aus dem Klagegesang draußen auf dem Flur schloss er, dass Assad immer noch damit beschäftigt war, die Leiter auf- und zusammenzuklappen, sie hin- und herzuwuchten und rauf- und runterzuklettern, um die Kopienumzuhängen. Vielleicht sollte Carl ihm erzählen, dass in den Räumen der Beamtensterbekasse eine zweite Leiter stand. Aber eigentlich hatte er dazu gerade überhaupt keine Lust.
Carl nahm sich die alte Akte zum Rødovre-Brand vor. Nach der Lektüre wollte er den Mist auf Jacobsens Schreibtisch platzieren – und zwar ganz oben auf dem am höchsten aufragenden Aktenturm.
In der Akte ging es um einen Brand in Rødovre im Jahr 1995. Das neu gedeckte Ziegeldach eines mehrstöckigen Gebäudes im Damhusdal, das eine Import-Export-Firma beherbergte, war plötzlich in zwei Hälften gebrochen, und binnen weniger Sekunden hatten die Flammen die oberste Etage vernichtet. Als der Brand gelöscht war, entdeckte man eine Leiche. Der Firmeneigentümer wusste nichts von dem Mann, aber Nachbarn erzählten, sie hätten die ganze Nacht einen Lichtschein in einem der Dachfenster gesehen. Da sich die Leiche nicht identifizieren ließ, vermutete man einen Obdachlosen, der durch das noch nicht ganz geschlossene Dach ins Gebäude eingedrungen war, dort sein Lager aufgeschlagen und vergessen hatte, in der Teeküche den Gashahn abzudrehen. Erst als der Gasanbieter HNG mitteilte, der Gashahn sei gar nicht aufgedreht gewesen, wurde der Fall dem Dezernat für Gewaltdelikte der Polizei Rødovre übergeben. In deren Hängeregistraturen hatte der Fall dann vor sich hin gemodert. Bis zu dem Tag, als das Sonderdezernat Q eingerichtet wurde. Und auch dort hätte er wohl ein unbeachtetes Dasein gefristet, wäre nicht Assad auf die Einkerbung am linken kleinen Finger der Leiche aufmerksam geworden.
Carl schnappte sich sein Telefon und gab die Nummer von Marcus Jacobsen ein. Kaum drang die Stimme der Sørensen an sein Ohr, schnellte Carls Frustpegel in die Höhe.
»Nur ganz kurz, Sørensen«, sagte er, »wie viele Fälle …?«
»Mørck? Sie!? Ich verbinde Sie lieber gleich mit jemandem, der Sie nicht so peinlich findet.«
Früher oder später würde er ihr mal einen Skorpion unter den Arsch setzen.
»Hallo, mein Lieber«, flötete Lis.
Puh. Ob die Sørensen vielleicht doch so etwas wie Mitgefühl kannte?
»Kannst du mir sagen, bei wie vielen der letzten Brandfälle wir die Identität der Opfer kennen? Ja, und wie viele Fälle sind es denn eigentlich insgesamt?«
»Du meinst die
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