Erlösung
Zeit, mal zu zeigen, wer hier der Herr im Haus ist, dachte er.
7
Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, fand sie, das Leben müsse ihr mehr zu bieten haben. »Pfirsichhaut« und »Dornröschen«. Diese Kosenamen aus der Schulzeit in Thyregod bestimmten noch immer ihr Bild von sich. Manchmal, wenn sie sich auszog, konnte der Anblick ihres eigenen Körpers sie durchaus noch positiv überraschen. Mit diesem Wissen allein dazustehen, reichte ihr aber nicht. Natürlich nicht.
Die Distanz zwischen ihnen beiden war zu groß geworden. Er sah sie nicht mehr.
Wenn er nach Hause kam, würde sie ihm sagen, dass er sie nicht wieder verlassen dürfe und dass es bestimmt andere Arbeitsmöglichkeiten für ihn gäbe. Sie wollte ihn kennenlernen und wissen, was er tat, und sie wollte ihn jeden Tag neben sich aufwachen sehen.
Ja, darauf würde sie bestehen.
Früher mal war am Ende der Straße Toftebakken hinter der psychiatrischen Klinik ein kleiner Müllabladeplatz gewesen. Die zerschlissenen Holzwollematratzen und die rostigen Bettgestelle waren inzwischen verschwunden. Jetzt war dort eine kleine grüne Oase entstanden, mit ungehindertem Blick auf den Fjord und die exklusivsten Wohnsitze der Stadt.
Sie liebte diesen Platz, liebte es, dort zu stehen und den Blick über den Yachthafen und den blauen Fjord schweifen zu lassen.
An einem solchen Ort und in einem solchen emotionalen Zustand konnte es leicht passieren, dass man den Zufällen des Lebens wehrlos ausgesetzt war. Vielleicht sagte sie deshalb Ja,als der junge Mann vom Fahrrad abstieg und vorschlug, zusammen einen Kaffee trinken zu gehen. Er wohnte im selben Viertel wie sie, und sie hatten sich manchmal beim Einkaufen zugenickt. Jetzt stand er da.
Sie sah auf die Uhr. Ihren Sohn musste sie erst in zwei Stunden abholen, sie hatte also Zeit genug. Es konnte doch nicht verkehrt sein, eine Tasse Kaffee zu trinken.
Aber da sollte sie sich entsetzlich irren.
Am Abend saß sie wie eine alte Frau auf ihrem Sessel und schaukelte vor und zurück. Presste die Arme vor den Bauch und versuchte, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Was sie getan hatte, war ganz unbegreiflich. Was war denn bloß in sie gefahren? Es war, als hätte der nette Mann sie hypnotisiert. Nach zehn Minuten hatte sie ihr Handy ausgeschaltet und angefangen, von sich selbst zu erzählen. Und er hatte zugehört.
»Mia, was für ein schöner Name«, hatte er gesagt.
Es war so lange her, seit sie ihren Namen zuletzt gehört hatte, so lange, dass er ganz fremd klang. Ihr Mann benutzte ihn nie.
Dieser junge Mann war so freimütig gewesen. Er hatte ihr Fragen gestellt, und wenn sie ihn etwas fragte, hatte er ihr geantwortet. Er war Soldat, Kenneth hieß er. Er hatte gute Augen, und als er seine Hand auf ihre legte, während mindestens zwanzig andere Gäste das sehen konnten, hatte sich das nicht falsch angefühlt. Er hatte ihre Hand leicht gedrückt und festgehalten.
Und sie hatte ihre Hand nicht weggezogen.
Anschließend war sie Hals über Kopf zur Kinderkrippe gerannt und hatte dabei immer noch seine Nähe gespürt.
Inzwischen war es Abend geworden, aber weder die Stunden noch die Dunkelheit hatten ihren Puls beruhigen können. Sie musste sich ständig auf die Lippen beißen. Das ausgeschaltete Handy lag auf dem Couchtisch und schien sie anklagend anzusehen.Sie war auf einer Insel gestrandet, von der man keinen Ausblick hatte. Es gab niemanden, den sie um Rat fragen konnte. Niemanden. Und niemanden, bei dem sie Vergebung finden würde.
Wie sollte es weitergehen?
Als der Morgen graute, saß sie immer noch dort, vollständig angezogen. Und verstört. Gestern, während ihres Gesprächs mit Kenneth, hatte ihr Mann sie auf ihrem Handy angerufen. Das hatte sie gerade festgestellt. Das Display zeigte drei vergebliche Anrufe an, und damit war sie ihm eine Erklärung schuldig. Er würde sie anrufen und fragen, warum sie das Gespräch nicht angenommen hatte. Und er würde ihre Lüge durchschauen, egal wie plausibel die Geschichte auch klang. Er war klüger und älter und hatte mehr Lebenserfahrung als sie. Er würde ihren Betrug spüren, und deshalb zitterte sie jetzt am ganzen Leib.
Für gewöhnlich rief er drei Minuten vor acht an, direkt ehe sie mit Benjamin aus dem Haus musste. Heute würde sie es anders machen und ein bisschen später fahren. Er sollte die Gelegenheit bekommen, sie zu fragen, aber er durfte sie nicht unter Druck setzen. Denn dann würde es schiefgehen.
Sie hatte ihren Sohn schon auf
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