Erlösung
Arme und lachte.
Da drehte sie sich um und der Ausdruck des eben erlebten Schocks fror auf ihrem Gesicht fest.
Fünf Minuten später saß sie mit abgewandtem Gesicht vor ihm im Wohnzimmer. »Du gehst freiwillig mit nach Hause«, hatte er gesagt. »Wenn nicht, siehst du unseren Sohn nie wieder.«
Und nun waren ihre Augen von Hass und Trotz erfüllt.
Wenn er herausfinden wollte, wohin sie unterwegs gewesen war, dann müsste er schon Gewalt anwenden.
Für ihn und seine Schwester waren es seltene und wunderbare Augenblicke.
Wenn er sich im Schlafzimmer richtig hinstellte, konnte er bis zum Spiegel zehn kleine Schritte trippeln. Die Füße waren nach außen gekehrt, der Kopf wippte von einer Seite zur anderen und der Stock drehte sich in der Luft. Während dieser zehn Trippelschritte war er ein anderer. Nicht der Junge ohne Spielkameraden. Nicht der Sohn des Mannes, vor dem der ganze kleine Ort knickste und buckelte. Nicht das auserwählte Schaf aus der Herde, das Gottes Wort weitertragen und es wie Donnergrollen gegen die Menschen richten sollte. Er warnichts weiter als der kleine Vagabund, der alle zum Lachen brachte, nicht zuletzt sich selbst.
»Mein Name ist Chaplin, Charlie Chaplin«, sagte er und zuckte mit den Lippen unter seinem imaginären Schnurrbart, und Eva fiel vor Lachen fast vom elterlichen Bett. Sie hatte sich schon zweimal so amüsiert, als er seine Nummer abgezogen hatte. Aber dieses Mal war das letzte Mal.
Das letzte Mal überhaupt, dass sie lachte.
Denn eine Sekunde später spürte er die Berührung auf der Schulter. Es bedurfte nur eines Antippens mit dem Zeigefinger und die Luft blieb ihm weg, der Hals wurde trocken. Als er sich umdrehte, war der Schlag seines Vaters schon zu seinem Zwerchfell unterwegs. Aufgerissene Augen unter buschigen Augenbrauen. Kein Laut, nur der Schlag und der nächste und alle, die noch folgten.
Als seine Gedärme zu brennen anfingen und die Magensäure beißend im Hals aufstieg, da zog er sich einen Schritt zurück. Trotzig sah er seinem Vater in die Augen.
»Aha, du heißt also jetzt Chaplin«, flüsterte sein Vater. Der Blick, mit dem er ihn anstarrte, war derselbe, den er am Karfreitag aufsetzte, wenn er seiner Gemeinde den schweren Weg des Jesus von Nazareth nach Golgatha ausmalte. Die Trauer und die Qual der ganzen Welt lagen auf seinen willigen Schultern, daran bestand kein Zweifel, das begriff man auch als Kind.
Dann schlug er wieder zu. Diesmal holte er mit dem Arm weit aus, sonst hätte er ihn nicht erreicht. Auf keinen Fall würde er sich zwingen lassen, einen Schritt auf das trotzige Kind zuzugehen.
»Woher hast du dieses Teufelszeug in deinem Kopf?«
Er blickte nach unten, auf die Füße seines Vaters.
Von nun an würde er nur noch die Fragen beantworten, die er beantworten wollte. Sein Vater mochte schlagen, so viel er wollte, er würde nicht antworten.
»Aha, du antwortest nicht. Dann muss ich dich ja wohl bestrafen.«
Er zerrte ihn am Ohr in sein Zimmer und stieß ihn aufs Bett. »Hier bleibst du, bis wir kommen und dich holen, ist das klar?«
Auch darauf antwortete er nicht. Erstaunt stand der Vater einen Moment da, den Mund leicht geöffnet, als kündigte der Trotz dieses Kindes den Tag des Jüngsten Gerichts oder das Herannahen der alles vernichtenden Sintflut an. Dann fasste er sich.
»Nimm all deine Sachen und leg sie auf den Flur«, sagte er.
»Natürlich nicht deine Schuhe, deine Kleidung und dein Bettzeug. Aber alles andere.«
Er zog das Kind aus dem Blickfeld seiner Frau und ließ sie allein zurück. Das blasse Licht, das durch die Jalousien fiel, legte sich in Streifen über ihr Gesicht.
Ohne ihr Kind würde sie nirgends hingehen, das wusste er.
»Er schläft«, sagte er, als er aus dem ersten Stock wieder nach unten kam. »Nun sag mir doch mal, was hier vorgeht.«
»Was hier vorgeht?« Sie drehte langsam den Kopf um. »Sollte nicht ich diese Frage stellen?« Ihre Augen waren dunkel. »Was für einer Arbeit gehst du nach? Womit verdienst du das viele Geld? Tust du etwas Ungesetzliches? Erpresst du Menschen?«
»Menschen erpressen? Wie kommst du denn darauf?«
Sie wandte ihr Gesicht ab. »Das ist egal. Du sollst Benjamin und mich einfach nur gehen lassen. Ich will hier nicht länger sein.«
Er runzelte die Stirn. Sie stellte Fragen. Sie stellte Forderungen. Gab es etwas, das er übersehen hatte?
»Ich sagte: Wie kommst du darauf?«
Sie zuckte die Achseln. »Wie sollte ich nicht darauf kommen? Du bist immer weg. Du
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