Erlösung
hier übernachtet, und die wenigsten haben überhaupt ein Handy, da bin ich mir sicher. Und wenn, warum sollten sie ein Ladegerät zu einer Tauffeier mitnehmen? Das macht doch keinen Sinn.«
Sie wollte protestieren, aber er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Nein, du lügst.« Er deutete aus dem Fenster auf das Fahrrad. »Gehört das Ladegerät ihm? Wann ist er zuletzt hier gewesen?«
Die Schweißdrüsen in den Achselhöhlen reagierten umgehend.
Er packte sie am Arm, seine Hände waren kalt und feucht. Oben bei den Kartons war sie noch unschlüssig gewesen, aber die Art, wie er ihren Arm jetzt festhielt, wie ein Schraubstock, verscheuchte jeden Zweifel. Gleich schlägt er mich, dachte sie. Aber das tat er nicht. Im Gegenteil, als sie nicht antwortete,drehte er sich auf dem Absatz um und knallte die Tür zum Flur hinter sich zu. Dann kam nichts mehr.
Sie stand auf, um zu sehen, ob sein Schatten draußen auf dem Gartenweg erschien. Sobald sie sicher war, dass er das Grundstück verlassen hatte, würde sie sich Benjamin schnappen und weglaufen. Durch den Garten hinunter zur Hecke und dort durch das Loch, das die Kinder des Vorbesitzers hineingeschnitten hatten. In fünf Minuten wären sie drüben bei Kenneth. Und ihr Mann hätte keine Ahnung, wo sie abgeblieben wären.
Anschließend müssten sie nur noch von dort wegkommen.
Aber der Schatten erschien nicht auf dem Gartenweg. Stattdessen tat es oben einen gewaltigen Schlag.
O Gott, dachte sie. Was macht er nun?
Sie sah zu ihrem lachenden, hüpfenden Kind. Konnte sie jetzt schnell mit ihm fliehen? Standen die Fenster oben noch offen? Konnte ihr Mann sie hören? Stand er womöglich am Fenster, um sie zu beobachten?
Sie biss sich in die Oberlippe und sah zur Zimmerdecke. Was machte er dort oben?
Da nahm sie ihre Tasche und leerte die Blechdose mit dem ersparten Haushaltsgeld hinein. Sie traute sich nicht, auf den Flur zu gehen und Benjamins Jacke zu holen. Aber es ging ja wohl auch so, Hauptsache Kenneth war zu Hause.
»Komm, Schatz«, sagte sie und hob den Jungen hoch. Wenn das Gartentor offen war, waren es bis zur Hecke höchstens zehn Sekunden. Die Frage war, ob es das Loch noch gab. Sie hatte es im letzten Jahr gesehen.
Damals war es ziemlich groß gewesen.
20
Als sie Kinder waren, er und seine Schwester, lebten sie in einer ganz anderen Welt. Sobald der Vater die Tür zum Büro hinter sich schloss, blühten sie auf. Dann konnten sie in ihre Zimmer gehen und Gott Gott sein lassen.
Aber es gab auch andere Momente. Wenn sie gezwungen waren, an den Bibelstunden teilzunehmen, oder wenn sie im Gottesdienst zwischen lauter Erwachsenen standen, die ihre Hände ekstatisch himmelwärts reckten und Jubelschreie ausstießen. Dann wendeten sie ihre Blicke nach innen und zogen sich in ihre eigene Wirklichkeit zurück.
Dafür hatten beide ihren jeweils eigenen Weg gefunden. Eva starrte insgeheim die Schuhe und Kleider der Frauen an und machte sich hübsch. Strich über die Falten ihres Plisseerocks, bis sie glänzten. Innerlich war sie eine Prinzessin. Losgelöst von den strengen Blicken und den harten Worten der Welt. Oder eine Fee mit hellen, zarten Flügeln, mit denen sie sich schon beim leisesten Windhauch über die graue Wirklichkeit und die häuslichen Zumutungen erheben konnte.
Wenn Eva auf diese Weise abwesend war, summte sie. Summte mit verzückten Augen und trippelte auf der Stelle. Ihre Eltern, die diese seltsamen Tanzbewegungen für eine ganz persönliche Form der Anbetung hielten, wähnten sie in solchen Momenten sicher in Gottes Hand.
Aber er wusste es besser. Eva träumte von Schuhen und Kleidern und einer Welt voller Spiegel und liebevoller Worte. Er war ihr Bruder. So etwas wusste er eben.
Er selbst träumte von einer Welt mit Menschen, die lachen konnten.
Dort, wo sie lebten, lachte niemand. Lachfalten waren etwas, das er nur in der Stadt sah, und er fand sie hässlich. Nein, sein Leben war ohne Lachen, ohne Freude. Als er fünf Jahre alt war, hatte sein Vater von einem Pfarrer der evangelischlutherischen Staatskirche berichtet, den er unter Schimpfen und Flüchen aus seiner Kirche gescheucht hatte. Das war das einzige Mal, dass er ihn hatte lachen hören. Und deshalb brauchte seine kindliche Seele Jahre, ehe sie begriff, dass Lachen etwas anderes sein konnte als schadenfrohes Verhöhnen anderer Menschen.
Doch sobald sie das herausgefunden hatte, wurde er den Ermahnungen und dem Spott seines Vaters gegenüber taub. Und er lernte, sich in
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