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Erlösung

Erlösung

Titel: Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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geschlagen werden. Vielleicht weinte sie dann auch nicht die ganze Nacht.
    Und so stand er da und hielt Ausschau nach einer freundlichen Seele, von der er sich vorstellen konnte, dass sie ihreGottesfurcht mit anderen teilen wollte. Horchte nach einer Stimme, die nach jener Sanftmut und Milde klang, die Jesus gepredigt hatte.
    Was er stattdessen hörte, waren Kinder, die lachten. Nicht so ein Lachen, wie er es auf Schulhöfen gehört hatte oder wenn er es riskierte, vor einem Radio- und Fernsehgeschäft stehen zu bleiben und kurz in eine Kindersendung hineinzusehen. Nein, die lachten, dass es sich anhörte, als würden ihre Stimmbänder gleich reißen, und die Leute blieben stehen und sahen zu ihnen hinüber. So hatte er zu Hause unter der Bettdecke noch nie gelacht, und das verlockte ihn.
    Da konnten die Stimmen in ihm noch so viel von Zorn und Buße flüstern. Er konnte einfach nicht vorbeigehen.
    Es war nur eine kleine Schar, die sich vor einer Bude versammelt hatte, Erwachsene und Kinder in trauter Eintracht. Schiefe rote Buchstaben prangten auf einem weißen Tuch:
Spannende Videofilme – heute zum halben Preis
. Auf einem Brettertisch stand ein Fernseher, kleiner, als er je einen gesehen hatte.
    Die Kinder lachten über eines dieser Videos, das in Schwarz-Weiß über den Bildschirm flimmerte. Schon bald lachte er mit. Lachte, dass es im Zwerchfell schmerzte und in dem Teil der Seele, der erst in diesem Augenblick in all seiner Herrlichkeit das Licht der Welt erblickte.
    »Mit Chaplin kann eben doch keiner mithalten«, meinte einer der Erwachsenen.
    Und alle lachten über den Mann, der dort oben auf dem Bildschirm Pirouetten drehte und boxte. Sie lachten, wenn er seinen Stock schwang und seinen schwarzen Hut lupfte. Lachten, wenn er all den dicken Damen und Herren mit den schwarz umrandeten Augen Grimassen zog. Und er lachte mit ihnen, bis ihm der Bauch wehtat, und niemand gab ihm deshalb einen Klaps auf den Hinterkopf oder nahm überhaupt Notiz von ihm.
    Es war absurd, aber dieses wunderbare, unerwartete Erlebnis sollte bald sein Leben und das einer Menge anderer Menschen auf immer verändern.
     
    Seine Frau blickte sich nicht um. Sie sah überhaupt nicht viel. Mechanisch schienen ihre Füße durch das Villenviertel zu laufen, als bestimmten unsichtbare Kräfte den Weg und das Tempo.
    Wenn ein Mensch auf diese Weise von der Wirklichkeit abhebt, reicht oft eine Kleinigkeit, um eine Katastrophe herbeizuführen – und ähnlich viel Schaden anzurichten wie ein Schräubchen, das sich in der Tragfläche eines Flugzeugs löst, oder ein Wassertropfen, der im Relais einer Eisernen Lunge einen Kurzschluss verursacht.
    Er hatte die Taube bemerkt, die sich direkt über seiner Frau und seinem Sohn auf einem Ast niederließ, gerade als sie die Straße überqueren wollten, und er nahm auch den Klecks wahr, der nach unten fiel und wie Gespensterfinger auf die Gehwegplatten klatschte. Er sah, wie sein Sohn darauf deutete und wie seine Frau nach unten blickte. Und in dem Augenblick, als sie auf die Fahrbahn traten, bog ein Auto um die Ecke und fuhr mit tödlicher Präzision direkt auf die beiden zu.
    Er hätte aufschreien können, zur Warnung, aber er tat nichts dergleichen, denn emotional regte sich in dem Moment nichts bei ihm.
    Die Bremsen des Autos quietschten und der Schatten hinter der Windschutzscheibe riss das Steuer herum, und die Welt stand still.
    Er sah sein Kind und seine Frau vor Schreck zittern und die Köpfe wie in Zeitlupe umdrehen. Das schwere Fahrzeug schleuderte zur Seite, und eine Bremsspur, schwarz wie Kohle auf Zeichenpapier, zog sich quer über die Straße. Dann fing sich der Wagen wieder und fuhr geradeaus weiter. Seine Frau stand wie angegossen am Kantstein und er selbst starr und mithängenden Armen in einigem Abstand. Gefühle von Schmerz und Zärtlichkeit durchfluteten ihn. Sie gerieten in Widerstreit mit der sonderbaren Form von Rausch, die er bislang nur einmal erlebt hatte, damals, als er zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte. Nein, diese Sentimentalität wollte er keinesfalls zulassen.
    Er atmete ganz langsam aus und Wärme flutete durch seinen Körper. Aber er stand etwas zu lange dort, denn Benjamin entdeckte ihn, als er den Kopf drehte, um sein Gesicht am Hals seiner Mutter zu vergraben. Er war ganz offensichtlich erschrocken, das war er immer, wenn seine Mutter heftig reagierte. Aber die Lippen hörten auf zu zittern und die Augen strahlten auf, als er seinen Vater sah, und er hob die

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