Erlösung
Korintherbriefe fertig lesen, das hat Vater selbst gesagt.«
In kindlicher Naivität hatte er geglaubt, sie würde ihn retten. Sich zwischen sie stellen. Ihn wegziehen aus der erstickenden Umarmung des Vaters, dieses eine Mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Das mit Chaplin war doch nur ein Spiel, das ihm gefiel. Damit tat er doch niemandem etwas zuleide. Jesus hatte als Kind doch auch gespielt, das wussten sie doch.
»Jetzt geh schon, und zwar schnell!« Seine Mutter presste die Lippen zusammen und packte ihn am Nacken. Dieser Griff, der ihn so oft schon auf den Weg zu Schlägen und Demütigung geschickt hatte.
»Dann sag ich, dass du nach unserem Nachbarn schaust, wenn er sich auf dem Feld das Unterhemd auszieht«, sagte er.
Sie zuckte zusammen. Das stimmte nicht, und das wussten sie beide. Schon der winzigste Blick in Richtung eines anderen, freien Lebens war ein Schritt in Richtung Hölle. Davon hörten sie in der Gemeinde, bei den Tischgebeten und überhaupt bei jedem Zitat aus dem schwarzen Buch, das stets in der Tasche des Vaters steckte. Satan verbarg sich in den Blicken zwischen den Menschen. Satan verbarg sich im Lächeln und in jeglicher Form von Berührung. Das stand alles in dem schwarzen Buch.
Und nein, es stimmte nicht, dass seine Mutter nach dem Nachbarn schaute, aber dem Vater saß die Hand immer so locker, und nie kam der Zweifel jemandem zugute.
Da sagte seine Mutter mit kalter Stimme etwas, das sie vonnun an auf immer trennte: »Du Teufelsbrut. Möge dich der Teufel nach dort unten ziehen, wo du herkommst. Möge das Fegefeuer deine Haut verkohlen und dir ewige Schmerzen bereiten.« Sie nickte. »Ja, du siehst erschrocken aus, aber Satan hat dich schon geholt. Nun kümmern wir uns nicht mehr um dich.«
Sie zog die Tür auf und schob ihn in den nach Portwein stinkenden Raum.
»Komm her«, sagte sein Vater, während er sich den Gürtel um das Handgelenk wickelte.
Die Gardinen waren vorgezogen, sodass nur ganz wenig Licht eindrang.
Wie eine Salzsäule stand Eva in ihrem weißen Kleid hinter dem Schreibtisch. Er hatte sie anscheinend nicht geschlagen, denn die Ärmel waren nicht aufgekrempelt und ihr Weinen war kontrolliert.
»Na, du spielst also noch immer Chaplin«, sagte sein Vater kurz.
Aus dem Augenwinkel erfasste er, wie Eva versuchte, nicht in seine Richtung zu sehen.
Dann würde es also hart werden.
»Hier sind Benjamins Papiere. Es ist wohl das Beste, ihr habt sie, solange er bei euch ist. Falls er krank wird.«
Er gab dem Schwager die Unterlagen.
»Rechnest du damit, dass er krank wird?« Seine Schwester klang aufgeschreckt.
»Natürlich nicht. Benjamin ist kerngesund.«
Er sah es bereits in den Augen des Schwagers: Sie wollten mehr Geld.
»Ein Junge in Benjamins Alter isst viel«, gab sein Schwager zu bedenken. »Allein schon die Windeln werden tausend Kronen im Monat kosten.« Falls Zweifel daran bestünden, könnten sie das gerne im Internet nachschauen.
Und der Schwager rieb sich die Hände wie der geizige Scrooge in der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Fünftausend Kronen extra konnten dabei gut und gerne rausspringen, verrieten diese Hände.
Aber die bekam der Schwager nicht. Sie würden doch nur direkt an einen dieser Prediger weiterwandern, die bewusst ignorierten, welche Gemeinde bezahlte und wofür.
»Wenn es Probleme mit dir und Eva gibt, werde ich unser Arrangement jederzeit revidieren, ist das klar?«
Sein Schwager stimmte unwillig zu, aber seine Schwester war bereits weit weg. Die weiche Haut des Jungen wurde gründlich von Fingern untersucht, die nicht viel Gutes gewöhnt waren.
»Was für eine Haarfarbe hat er jetzt?«, fragte sie, und ihre blinden Augen waren von Freude erfüllt.
»Die gleiche Farbe, wie ich sie als Junge hatte, falls du dich daran erinnerst«, sagte er und notierte für sich, wie die matten Augen auswichen.
»Und ihr verschont Benjamin mit euren verfluchten Gebeten, habt ihr verstanden?«, fuhr er fort. Erst dann gab er ihnen das Geld.
Er sah sie nicken, aber ihr Schweigen gefiel ihm gar nicht.
In vierundzwanzig Stunden würde das Geld kommen. Eine Million Kronen in gebrauchten Scheinen, daran zweifelte er keinen Moment.
Jetzt wollte er zum Bootshaus fahren und nachsehen, ob die Kinder einigermaßen fit waren. Morgen nach der Geldübergabe würde er wieder hinfahren und das Mädchen umbringen. Der Junge würde Chloroform bekommen. In der Nacht zu Dienstag würde er ihn auf einem Feld in der Nähe von Dollerup
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