Erlösung
Linienflug.“
„Und wenn ich zu Hause niemanden anfasse und ihm direkt in die Augen sehe?“ Lesley schien sich die Auswirkungen nicht ausmalen zu können. Wie auch, das war schließlich alles Neuland für sie.
„Als ich mich in dein Leben gewagt habe, geschah dies auch nur mit äußerster Vorsicht. Weil ich ein gänzlich Unbekannter war, gab es keine Gesten, keine Äußerlichkeiten, die mich hätten verraten können. Du aber bist allen als Mensch begegnet und jetzt hat sich dein Körper verändert. Deine Bewegungen sind schneller und flinker als bei einem Sterblichen, von der Kraft mal abgesehen.“ Ich blickte die Hauswand hinauf. „Denk´ doch nur an gerade eben. Das ist jetzt normal für dich, aber das wird es für einen Menschen nie sein.“ Ich sah sie wieder an und strich ihr dabei zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Am ehesten würden dich allerdings deine Augen verraten, denn so ein strahlendes Blau ist definitiv nicht mehr erklärbar. Du wirst Kontaktlinsen tragen müssen, es ist besser, weil du dich noch nicht so kontrollieren kannst.“
„Ich dachte, die Augen leuchten nur in der Dunkelheit oder wenn man durstig ist.“
„Das kommt manchmal darauf an. Bei Erregung oder Wut changieren sie meistens auch. Je älter und geübter man ist, desto einfacher wird es aber, den Vampir zu bändigen und solche Empfindungen zu verstecken oder zumindest abzumildern. Man spricht schließlich nicht umsonst davon, dass die Augen der Spiegel der Seele sind. Es wird für uns einfach leichter sein, wenn wir uns absichern. Mit gewissen Vorkehrungen musst du nicht ständig auf alles und jeden achten. Und ich möchte natürlich kein unnötiges Risiko eingehen. Ich habe oft genug erlebt, dass scheinbar ganz normale, belanglose Situationen aus dem Gleichgewicht gebracht werden können und im schlimmsten Fall ganz aus dem Ruder laufen.“ Ich seufzte. „Das hörte sich jetzt zu sehr wie die Standpauke eines Lehrmeisters an, oder?“
„Ein wenig“, sie lächelte verständnisvoll, „aber ich verstehe, was du sagen willst. Und du hast ganz klar mehr Erfahrung in diesen Dingen, also werde ich tun, was du sagst.“
„Letztendlich gibt es eine Sache, die auch mich zu solchen Handlungen zwingt. Und zwar unentdeckt zu bleiben, das ist und bleibt nun einmal unser erstes Gebot.“
Jetzt grinste sie wieder. „Ja, und du hast es gebrochen.“
Blitzschnell zwickte ich sie in die Seite und trotz ihrer neuen verbesserten Reaktionszeit hatte sie keine Chance, mich abzuwehren.
„Immer noch zu schnell für mich“, es klang nicht wirklich enttäuscht. „Ich freue mich auf den Tag, wo es einmal andersherum sein wird.“ Ich hätte ihr sagen können, dass ich einen über hundertsiebzigjährigen Machtvorsprung hatte, doch wer konnte schon sagen, ob sie mich nicht trotzdem irgendwann schlagen würde? Immerhin hatte ich selbst ungeahnte Stärken und Fähigkeiten im Laufe der Zeit entwickelt, da sollte ich mich nicht großspurig aus dem Fenster lehnen. Außerdem wollte ich ihr diesen kleinen positiven Zukunftsausblick gönnen, weil ihr Glücksgefühl beim Besuch ihrer Familie bestimmt einen Dämpfer bekommen würde. Dieses Aufeinandertreffen würde einmalig bleiben müssen und der Abschied war dann definitiv für immer. Ich hoffte im Stillen, dass ihr dies bereits bewusst war.
„Also brechen wir am Abend wieder nach England auf.“
„Warum nicht in der Früh?“
Ich deutete zum Himmel hinauf. „Es wird sonnig werden, allerdings nur bis zum Nachmittag, aber vorher sollten wir dem Tageslicht fern bleiben.“
Sie stutzte etwas. „Du klingst so sicher, denkst du nicht, dass sich auch Meteorologen irren?“
Ich schmunzelte. „Die ganz sicher, aber auf meinen Instinkt kann man sich verlassen.“ Meine linke Hand legte sich sanft auf ihre Brust, genau oberhalb ihres Herzens. „Du musst nur in dich hineinhören, es fühlen, die Energie des Tages in dich aufnehmen… nach einiger Zeit spürt dein Körper ganz automatisch, wann sich dein größter Feind zeigen wird.“
Lesley wirkte immer noch irritiert. „Wenn du das sagst. Aber dass die Sonne mich nun verbrennen soll, und nicht nur metaphorisch gesprochen, ist schon echt schwer zu glauben.“
„Ich weiß, und wenn du die Probe aufs Exempel machen willst, verstehe ich das, doch sei gewarnt. Es ist eine Tortur. Ich habe einmal schwere Verbrennungen davon getragen, dieses Erlebnis vergesse ich nicht mehr so leicht.“
„Viele Dinge, an die ich mich wohl noch
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