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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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hinbringen!«
    Â»Noch eine Fahrt überlebt sie nicht!«
    Für einen Moment gelang es dem Arzt, sie festzuhalten, aber dann sah er ihr in die Augen, und was immer er da sah, veranlasste ihn, zur Seite zu treten. »Bringt sie da hinten hin, ich kümmere mich gleich um sie.« Er schwenkte das Clipboard in Richtung des Gangs zur Intensivstation.
    Ella und der Pfleger rollten die Trage durch eine weitere Tür, vorbei an der Notaufnahme, in der alle Bänke und auch die durch Vorhänge voneinander getrennten Pritschen belegt waren. Die Räder der Trage quietschten, eins blockierte immer wieder. Im Laufen beugte Ella sich über die verletzte Frau. Das Blut in ihrem Gesicht war jetzt bräunlich, aber die Haut klaffte wachsbleich, und der Körper wirkte wie geschrumpft unter dem grünen Tuch. Der Trachealtubus, der aus ihrem Mund zum Beatmungsgerät führte, wirkte nicht wie ein Luftschlauch, sondern wie ein Kanal für die Seele, ein Weg, ihren Körper zu verlassen.
    Â»War die auch in der Disko?«, fragte der Pfleger.
    Â»Nein.«

    Â»Was ist denn dann mit ihr passiert?«, fragte der Pfleger. »Sind das Schnittwunden? Sieht aus, als wäre sie durch eine Glasscheibe gefallen.«
    Â»Ja«, sagte Ella, »so sieht es aus.« Nur schemenhaft nahm sie Chirurgen und Pfleger in grünen Kitteln wahr, Rettungssanis in Rot, Notärzte in Blau, Feuerwehrleute mit gelben Helmen und Polizisten in Uniform, die neben oder vor ihnen auftauchten und verschwanden. Im Laufen schob sie das linke Augenlid der Frau hoch. Die Pupille war mittelweit, reagierte aber nicht.
    Â»Sie scheint kaum noch Blut im Körper zu haben«, sagte der Pfleger. Er warf einen Blick auf das unleserliche Krankenblatt, das Max ausgefüllt und an die Trage geklemmte hatte. »Wie viel haben Sie ihr gegeben?«
    Â»Alles, was wir hatten.« Ella kontrollierte den Druckmesser. »90 zu 60. Blutdruck fällt schnell! Sie hat praktisch keinen Puls mehr, von 100 auf 57 seit eben. Ich habe ihr Noradrenalin direkt ins Herz gespritzt, sonst wäre sie jetzt schon – «
    Â»Wie heißt sie? Hier steht kein Name.«
    Â»Sie ist noch nicht dazu gekommen, das Aufnahmeformular auszufüllen«, sagte Ella. Das blockierende Rad klapperte jetzt hin und her.
    Â»Kein Grund, kiebig zu werden«, sagte der Pfleger. »Ich brauche einen Namen.«
    Â»Dann geben Sie ihr einen.«
    Ella sah ihn nicht an, sie hatte nur Augen für die Frau auf der Trage. Sie bogen um eine Ecke in einen Korridor, schlugen die Flügel einer durchsichtigen Plastikschwingtür zur Seite und rollten weiter einen langen Korridor entlang, an dessen Ende ein Fahrstuhlschacht lag. »Wie sieht’s auf der Intensiv aus?«, fragte Ella.
    Â»Platzt aus allen Nähten.«
    Â»Ich will ein Bett, egal wie.«
    Â»Keine Chance.«

    Die Pieptöne des Herzmonitors wurden schneller. »Druck 70 zu 40«, rief der Pfleger, »Scheiße, das sieht nicht gut aus – «
    Ella drehte das Sauerstoffventil weiter auf, und warum hören die Räder nicht auf zu quietschen , und »Dr. Carsten in die Kardiologie«, rief eine Frauenstimme über die Lautsprecheranlage, »Dr. Carsten, bitte sofort in die Kardiologie!«, und ein weiterer Arzt tauchte auf und lief neben ihnen her. Er trug einen Mundschutz, aber trotzdem konnte sie erkennen, dass es ein anderer war als der, der ihr versprochen hatte, sich um die Frau zu kümmern. »Ich übernehme jetzt!«, rief er und lief voraus zum Fahrstuhl. Er drückte auf den Rufknopf, und sie hatten Glück, die Tür öffnete sich sofort.
    Die Kabine war leer bis auf einen Jungen mit kahl rasiertem Schädel in einem Klinikhemd.
    Â»Wo bringen Sie sie hin?«, fragte Ella.
    Â»Nach oben, da ist mehr Platz«, antwortete der Arzt, und später, als sie sich alles noch einmal in Erinnerung rief, suchte sie nach einem Anzeichen, das ihr hätte auffallen müssen, einem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber alles, was ihr wieder einfiel, war der Junge mit dem kahl rasierten Schädel in dem Fahrstuhl, dieser kleine bleiche Junge, höchstens sieben Jahre alt, der allein und barfuß in dem grellen Licht des edelstahlverkleideten Lifts stand, in einem knielangen, weißen Klinikhemd, sich ein Auge zuhielt und mit dem anderen herausschaute, als wäre der Lift ein Raumschiff von einem anderen Planeten, in dem er gerade auf der Erde gelandet war,

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