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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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umgeben von außerirdischem Glanz.
    Â»Dr. Carsten, melden Sie sich umgehend in der Kardiologie! «, rief die Stimme in der Lautsprecheranlage.
    Â»Wie heißen Sie?«, fragte Ella den Arzt. »Sagen Sie mir Ihren Namen.« Der Arzt antwortete, nannte vielleicht seinen Namen, bloß dass sie ihn wegen des Mundschutzes nicht verstand, dann schob er die Trage mit der Frau und die Geräte in den Fahrstuhl.
Er drückte einen Knopf. Der Junge sah erst die Patientin an, dann den Arzt und schließlich Ella. Die Fahrstuhltür schloss sich vor dem Arzt und dem Jungen und der Frau.
    Auf einmal spürte Ella ihre Müdigkeit wiederkehren, eine Erschöpfung, in der sie versank wie in Treibsand. Sie ging den Korridor zurück, durch den sie noch nie vorher gegangen war. »Gute Nacht«, sagte der Pfleger, aber das hörte sie kaum noch. Nur mit Mühe konnte sie die Augen offen halten; es kam ihr vor, als hätte sie zerstoßenes Glas unter den Lidern. Sie war so durstig, dass die Zunge am Gaumen klebte. Sie ging durch die Plastiktür mit den transparenten Flügeln, und hinter der nächsten Tür trat sie erneut ins Chaos.
    Â»Können Sie mal mit anpacken?«, rief eine Schwester. Sie drückte Ella eine Sauerstoffmaske in die Hand und beugte sich über einen jungen Mann, der in Silberfolie gepackt auf einer Trage lag und verzweifelt nach Luft rang. Ella half ihr, den Mann zu halten, während eine zweite Schwester den Körper festschnallte. Ein beißender Geruch nach Rauch, verbrannter Haut und Urin stieg von dem Körper auf.
    Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums scharte sich ein Notfallteam um einen anderen Körper auf einer weiteren Trage. Es war ein sehr schmaler Körper, und hinter den Ärzten und Sanitätern stand eine türkische Frau mit angesengtem Kopftuch wie erstarrt, beide Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Junge in rußiger Freizeitkleidung versuchte, sie von den Ärzten wegzuziehen. »Mama, komm, Mama …«
    Für einen Moment gelang es ihm, sie festzuhalten, dann riss sie sich los und schrie, »Ayshe, meine Ayshe, oh Allah!« Ihre Augen waren gerötet und von Rauch und Tränen fast zugeschwollen. Immer wieder schrie sie, »Oh Allah, Allah, Herr Doktor, meine Ayshe!« und gerade als das Team die Trage wegrollen wollte, warf sie sich über den schmalen Körper. Hilflos zuckte der Junge in der Freizeitkleidung mit den Schultern.
Dann fasste er sie wieder bei den Armen und zog sie zurück. Behutsam aber fest schloss er sie in seine Arme, drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und sagte leise: »Alles wird gut, Mama, alles wird gut, ja? Alles wird gut …«
    Der junge Mann unter Ellas Händen bäumte sich auf. Sie bobachtete die flatternden Lider oberhalb der Sauerstoffmaske und wusste plötzlich, dass er sterben würde. Zusammen mit der Schwester schob sie die Trage in einen Korridor, auf dem noch mehr Rolltragen standen, eine hinter der anderen. Der Gang war erfüllt vom Fauchen der Respiratoren, die Luft in die Lungen der Opfer auf diesen Tragen pumpten. So viele, dachte Ella, so viele, für die es um vier Uhr morgens keinen Platz auf der Intensivstation mehr gab.
    Sie befestigte die Maske mit dem Gummizug im Nacken des alten Mannes, dann ging sie zur nächsten Trage, um zu sehen, ob sie dort etwas tun konnte.
    Ein Jugendlicher, bewusstlos, die Haare weggebrannt bis auf die Kopfhaut. Sie ging weiter zur übernächsten: eine Frau, vielleicht in ihrem Alter, die Lider zuckten, Brandsalbe glänzte auf dem dunkelroten Gesicht. Einige Sekunden lang flimmerte die Luft vor Ella, und wieder drohten ihre Beine nachzugeben. Doch das Gefühl ging vorüber, und als sie in die Gesichter der Menschen sah, der Männer, Frauen und Kinder, verspürte sie kein Entsetzen mehr, nur Mitleid, das sich ihr schwer aufs Herz legte.
    Sie hörte ein leises Klirren hinter sich, erst unregelmäßig, dann so präzise wie ein Metronom. Sie drehte sich um. Der sterbende junge Mann hatte ihr das Gesicht mit der Sauerstoffmaske zugewandt und klopfte mit einem Ring an der rechten Hand gegen das Metallgestell der Trage, als wollte er ihr eine Botschaft morsen. Dabei sah er sie unverwandt an. Sie kannte diesen Blick, der kein Ziel hatte, der durch sie hindurchging, weiter und weiter. Im nächsten Moment fiel der Mann zurück
und lag still. In seine Miene trat ein Ausdruck, der vorher nicht da gewesen

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