Erlosung
trat kurz auf die Bremse und blickte in den Innenspiegel. Max hielt die Trage mit der Verletzten fest. Die Kreuzung war leer. Ella trat das Gaspedal wieder durch. Sie spürte die Kraft des Motors in ihrem Bein, dann in der Brust. Der Mehrklang des Martinshorns auf dem Dach höhlte sie aus, legte sich wie ein Druck auf die Ohren. Sie neigte den Kopf nach vorn, rieb sich die Augen, die trockenen Lider.
Bitte, lass sie nicht sterben, ich habe doch getan, was ich konnte, was ich konnte, was ich â
Sie riss die Augen auf. Plötzlich wieder hellwach, sah sie einen Hund nur wenige Meter vor dem Sprinter auf einem Zebrastreifen. Im letzten Moment konnte sie den Wagen nach rechts ziehen, und einige Sekunden lang hatte sie das Gefühl, die Gewalt über den Sprinter zu verlieren. Es war, als schwebte sie. Der Sanka, Max, die Verletzte und sie selbst â wie losgelöst von der StraÃe trieben sie in den Morgen hinein, schwerelos, und sie hörte nichts mehr, keinen anderen Laut auÃer ihrem langsam pochenden Herzschlag.
Mit einem Krachen landete der Zauberteppich wieder auf allen vier Rädern, und sie beschleunigte noch mehr. Der Himmel über der Stadt veränderte seine Farbe, schien sich von den Häusern zu lösen. Die Nacht war nicht mehr tintenblau, die Spree bereits heller als das Ufer. Die StraÃenlaternen und die Scheinwerfer der Autos verblassten, und das ARD-Blau nahm einen schmutzigen Farbton an. Die deutsche Fahne vor dem Reichstag bewegte sich im staubigen Wind, und es würde wieder ein heiÃer Tag werden, heià und windig. Ella tippte ein paarmal auf
die Bremse, denn auf der anderen Seite der S-Bahn-Ãberführung ragte das Bettenhochhaus der Klinik in den Himmel, einundzwanzig Stockwerke, mit dem leuchtenden Schild auf dem Dach, Charité . Die Fenster in den unteren Stockwerken waren noch erleuchtet, während ganz oben schon das Grau des Morgens die aufgehende Sonne ahnen lieÃ. Ein kurzes Glücksgefühl stieg in Ella auf, du hast es geschafft! Dann hörte sie die anderen Sirenen, und gleich darauf sah sie das blaue Flackern vor sich. Schon auf der Höhe des dreistöckigen Verbindungstraktes zwischen den Gebäuden ging es nicht mehr weiter, und als sie in den AuÃenspiegel blickte, blitzte auch hinter ihr ein dichter Schwarm von blauen Lichtern: weitere Rettungsfahrzeuge, Streifenwagen und Feuerwehrautos, immer mehr, die aus Richtung des Tiergartentunnels und vom Kappeleufer heranrasten und sich an ihre StoÃstange hängten.
Sie fuhr so weit sie kam, und als es nicht mehr weiterging, stieg sie aus und rannte die Rampe zum Eingang der Notaufnahme hinauf. Hinter dem grünen Glasschutz der Rampe schoben gehetzte Sanitäter Rolltragen mit Schwerverletzten durch die automatischen Türen, reichten Sauerstoffflaschen und IV-Beutel an Pfleger und Schwestern weiter und liefen wieder hinaus, um die nächsten Opfer zu holen. Der Widerschein der Blaulichtleisten auf den in der Zufahrt haltenden Rettungswagen zuckte über die Gebäudefassaden. Ãrzte und Verwundete schrien durcheinander. Ella hielt einen Pfleger am Ãrmel fest. »Kommen Sie mit, ich brauche drauÃen Ihre Hilfe!«
»Jetzt nicht«, der Pfleger schüttelte heftig den Kopf, »Sie sehen doch, wieâs hier zugeht!«, aber sie lieà ihn nicht los. »Ich habe eine sterbende Frau im Wagen«, sagte sie, »die verblutet mir, wenn ihr nicht sofort geholfen wird.«
»Hier sterben noch mehr«, antwortete der Pfleger. Sie hielt ihn weiter fest und stand ihm einfach im Weg, bis er aufgab. Max hatte schon die Hintertüren geöffnet und alles vorbereitet,
damit die Trage mit der Frau aus dem Sanka gerollt werden konnte, und als der Pfleger die Patientin sah, wurde er blass und packte mit an. Sie hievten die Trage von der Ladefläche und rollten sie in die Klinik. Die ganze Zeit konnte der Pfleger die Augen nicht von der Frau lösen. Sie bahnten sich einen Weg durch die anderen Rettungsteams in der Notaufnahme, und hier war die Frau plötzlich nur einer von vielen verstümmelten Körpern.
Ein Arzt in einem blutbefleckten grünen Kittel lief ihnen entgegen und wedelte abwehrend mit einem Clipboard. Er schüttelte den Kopf. »Wir können niemand mehr aufnehmen.«
»Sie stirbt«, sagte Ella. »Sie muss sofort versorgt werden!«
»Wir haben keinen Platz«, sagte der Arzt. »Sie müssen sie woanders
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