Erlosung
war. Erlösung.
Ella ergriff seine Hand und legte sie ihm auf die Brust. Sie nahm ihm die Sauerstoffmaske ab und zog das grüne Tuch, das ihn bedeckte, bis zur Stirn hoch. Dann wandte sie sich ab und ging zurück zum Ausgang der Notaufnahme.
»Dr. Carsten, melden Sie sich umgehend in der Kardiologie«, sagte die Frauenstimme in der Lautsprecheranlage.
Ella entdeckte den Pfleger, der ihr mit ihrer Patientin geholfen hatte. »Haben Sie Max gesehen?«
»Wen?«
»Max Jansen, meinen Rettungsassistenten. Der sich den FuÃknöchel verstaucht hat.«
»Sie suchen jemanden, der sich den Knöchel verstaucht hat?«
Sie fand Max drauÃen im Rettungswagen. Er saà bei offenen Türen hinten auf der Kante der Transportfläche und rauchte einen Zigarillo. Der rechte Fuà war in einen Stützverband gewickelt. »Ist das schon geröntgt worden?«, fragte sie.
»Na klar«, sagte Max. »In der Radiologie hatten sie gerade nichts zu tun.«
Sie merkte, dass sie lächelte, aber es tat weh. »Komm, ich fahre dich in eine andere Klinik.«
»Nein, fahr mich nach Hause.«
4
Der dunkelgraue Audi Quattro stand in der Parkbucht vor der Einfahrt zum Campusgelände, halb hinter dem Virchow-Denkmal verborgen. Ella sah ihn erst, als sie schon fast vorbeigefahren war. Gerade ging die Sonne auf, und die Fenster des Bettenhauses warfen das Licht zurück. Das blendende GleiÃen der Fenster füllte den ganzen Rückspiegel aus, und Ella konnte nichts mehr erkennen, bis sie den Rettungswagen durch eine Lücke im Gegenverkehr in die ReinhardtstraÃe gesteuert hatte. »Ich glaube, da war er wieder«, sagte sie.
Max hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt und summte vor sich hin, Bruchstücke eines Songs, den sie nicht kannte. Dann sagte er: »Ich habe Hunger«, ohne die Augen zu öffnen.
»Worauf?«
»Wodka. Eine ganze Flasche.«
»Wodka ist ein Getränk«, sagte Ella. »Hunger hat man auf Essen.«
»Hast du Hunger?«, fragte Max.
»Weià ich noch nicht«, sagte sie.
»Möchtest du einen Wodka?«
»Später.«
»Und einen Döner?«
»Nein.«
» Ich möchte einen Döner«, sagte er.
»Soll ich zum Türken fahren?«
Er nickte. »Fahr zum Türken.« Er schloss die Augen und schien wegzudämmern.
Sie fuhr ein Stück weit die Reinhardt entlang in Richtung S-Bahn Oranienburger StraÃe. Jetzt gehörte die Stadt dem Morgen â den Sprengwagen der StraÃenreinigung, den Briefträgern, den Zulieferern der Supermärkte. Sie gehörte den ersten Ladenbesitzern, die ihre Rollläden hochzogen. Sie gehörte den Arbeitern und Angestellten, den Geschäftsleuten und berufstätigen Frauen, die aus den Eingängen der U-Bahn-Stationen quollen, die Eisentreppen der S-Bahnhöfe herabeilten oder mit Bussen, auf Fahrrädern und in ihren Wagen in die Stadt strömten. Sie gehörte dem Leben, dem Licht.
Studenten, Ãrzte und Pfleger bevölkerten die Bürgersteige rund um die Charité. Servicekräfte, die man früher Kellner genannt hatte, stellten die Stühle an die Tische vor den StraÃencafés, Backfactorys und vegetarischen Frühstücksshops. Schulkinder mit Rucksäcken und bunten Ranzen überquerten fröhlich kreischend die Zebrastreifen, und Ella dachte, sie sind so unschuldig, jeder von ihnen, keiner hat gesehen, was ich heute Nacht gesehen habe. Keiner weiÃ, wie nah sie dem Grauen sind; wie nah es ihnen ist. Und der Himmel war von einem strahlenden Blau.
»Er war da. Er war in der Wohnung«, sagte sie unvermittelt.
»Wer war in der Wohnung?«, fragte Max schläfrig.
»Der Mann, der sie so zugerichtet hat.«
»Woher weiÃt du das?«
»Ich habe ihn gesehen.«
Er öffnete nicht einmal die Augen. »Ach ja? Wie sah er aus?«
Sie antwortete nicht. Sie versuchte Ordnung in die Gedanken zu bringen, die in ihrem Kopf kreisten. Max fragte: »Was hast du eigentlich vor dem Haus noch mit dem Nachbarn der Frau geredet?«
Ella sagte: »Ich hab mir seinen Namen notiert und ihn gefragt, ob er es war, der den Notruf gewählt hat. Icke? Nee ⦠«,
machte sie ihn nach. »Dann hab ich ihn gefragt, ob er weiÃ, wie die Frau heiÃt, und er sagt, nee, ich glaub, die ist nicht von hier. Er hätte aber mal Post für sie angenommen, einen Brief mit französischer Marke drauf und einem
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