Erlosung
Annika.
Ella kam zurück, und aus Vergangenheit wurde wieder Gegenwart.
»Hat er dir je wehgetan?«, fragte Annika.
»Max? Nein.«
»Warum hast du dich dann von ihm getrennt?«
»Vielleicht deswegen.«
»Du magst es, wenn man dir Wunden zufügt, nicht?«
»Nein. Ich mag es, wenn jemand sie mir verbindet.«
Annika seufzte. »Wir laufen im Leben dauernd weg vor den Verletzungen, die uns andere zufügen, und landen bei denen, die wir uns selbst zufügen. Und eines Tages bemerken wir, dass es dieselben sind.« Sie konsultierte ihre Armbanduhr. »Es ist schon spät. Falls dein Polizist nicht Nachtschicht hat, solltest du ihn jetzt anrufen.«
»Ich wollte dich noch etwas fragen.« Ella beugte sich über den Tisch. »Laut Fachliteratur hat man doch unmittelbar vor einem epileptischen Anfall so ein Gefühl, du weiÃt schon, einen Moment äuÃerster Lebendigkeit, einen Flash, blendendes Licht, dann äuÃerste Klarheit und Ruhe. Angeblich ein Erlebnis, nach dem man süchtig werden kann, weil man für diesen Sekundenbruchteil erkennt, was sonst nur Heilige oder Engel sehen können: wie alles zusammenhängt. Hast du so einen Moment schon mal erlebt?«
»Ja.«
»Und wie war das?«
»Als würde man den Himalaja bei Nacht nur für die Dauer eines Blitzes erblicken.«
31
Die Leitung blieb so lange still, dass sie schon dachte, sie hätte sich verwählt. Dann kam das Freizeichen, und fast im selben Moment, meldete sich Hauptkommissar Aziz. »Ja?«
»Hier spricht Doktor Bach«, sagte Ella. Sie stand drauÃen auf dem Trottoir vor Murats Imbiss, das Gesicht dem groÃen Fenster zugewandt, durch das sie die Gäste an den Tischen sehen konnte, am letzten davon Annika. »Frau Jansen hat mir ausgerichtet, dass Sie mit mir reden wollen.«
»Gut, dass Sie anrufen!«, sagte Aziz mit gedämpfter Stimme. »Wo â¦Â«
Eine Hupe auf der StraÃe hinter Ella verschluckte den Rest seines Satzes. Reifen quietschten, und ein Motor heulte auf. Aus einem rostzernarbten BMW hämmerte das eintönige Wumm-wumm-wumm elektronischer Bässe vorbei. Klirrend zersprang Glas auf dem Asphalt. »Könnten Sie bitte etwas lauter sprechen?«, rief Ella.
»Ich habe gefragt: Wo sind Sie gerade?«
»Nicht in Paris. Oder in meinem Haus in der Normandie.«
Aziz schwieg einige Sekunden lang irritiert. »Es ist wichtig, dass wir uns so schnell wie möglich treffen«, sagte er dann. »Ich habe ein paar inoffizielle Ermittlungen in Ihrem Fall angestellt, und inzwischen bin ich davon überzeugt, dass Sie unschuldig sind. Fast alle Ihre Angaben haben sich als wahr herausgestellt.« Er dämpfte neuerlich die Stimme. »Aber Sie schweben in höchster
Gefahr. Allem Anschein nach sind Sie da in eine Sache hineingeraten, in â «
»Ich verstehe Sie ganz schlecht«, sagte Ella.
»Eine Verschwörung«, jetzt wieder lauter, »in die sogar Teile der Polizei verwickelt sind, Kollegen von mir, vom LKA. Ich weià nicht genau, wer und wie weit nach oben das reicht, aber â «
»Ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen muss«, sagte Ella, »eine DVD, die Mado â Madeleine Schneider â vor ihrem Tod aufgenommen hat. Es könnte sein, dass die ganze Sache etwas mit dem Verschwinden von Raymond Lazare, dem französischen Bankier, zu tun hat. Ich habe mit jemandem gesprochen, der die junge Frau kannte und eine Verbindung zwischen ihr und Lazare angedeutet hat. AuÃerdem habe ich mehrere Ãberwachungsfilme, die von einem Nachbarn auf der anderen Seite des Hofs aufgenommen wurden und auf denen man ihren Mörder und die Männer, die später die Spuren des Mordes beseitigt haben, sehen kann.«
Aziz schien den Atem anzuhalten. »Wissen Sie, dass Sie denen eine Heidenangst einjagen? Jetzt verstehe ich, warum.«
» Ich jage denen Angst ein?«
»Kann man die Männer erkennen?«
»Nur einen«, sagte Ella, »die anderen trugen Kappen und Mundschutz.«
»Wir müssen uns treffen«, sagte Aziz. »So bald wie möglich. «
»Morgen.«
»Wann? Wo?«
»Ich rufe Sie wieder an.«
»Unter dieser Nummer«, sagte Aziz. »Auf keinen Fall im LKA. Und sprechen Sie mit niemandem sonst.«
Ella unterbrach die Verbindung; erst, als es zu spät war, fiel ihr ein, dass sie sich gar nicht bedankt hatte. Plötzlich fröstelte
sie.
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