Erlosung
verabschieden. Annika fragte: »Triffst du dich mit ihm?«
»Ja.«
»Ich nehme an, er will, dass du allein kommst?«
»Ja.«
»Ruf mich kurz vorher an, auch wenn ich schon schlafe. Davor und sofort danach, klar?«
»Der Akku von meinem Handy ist leer. Ich habe fast die ganze Fahrt raus zu Forell mit ihm telefoniert, bis es seinen Geist aufgegeben hat.« Ella fiel ein, dass die Verbindung mitten in einem Satz Forells abgebrochen war. »Kann ich mal kurz meine Mailbox anrufen?« Sie gab den PIN-Code ein und hörte, dass sie eine neue Nachricht hatte. Sie hoffte für einen Moment, die Nachricht wäre von Dany. Stattdessen hörte sie Professor Forells Stimme, vor Aufregung halb erstickt, während im Hintergrund die Orgel dröhnte.
»Frau Bach? Sie waren plötzlich weg! Ich erreiche Sie nicht mehr. Ich weià nicht â vielleicht sind Sie das ja in dem Auto, das da kommt â, aber es ist kein Taxi. Ich habe alles aufgeschrieben â was ich Ihnen eben erzählt habe, habe ich heute Abend alles aufgeschrieben und die Seiten hinten in eins der Bücher geklebt, die auf dem Boden liegen. Da ist auch der Memory Stick versteckt, den Lazare mir wasserdicht verpackt in einer Flasche Bordeaux geschickt hat. Ich habe ihn herausgenommen
und immer bei mir getragen, und vorhin habe ich ihn in eins von den Büchern geklebt. Es ist eine Sammlung mit Erzählungen von Edgar Allan Poe. Das Buch liegt auf dem Boden neben dem Podest mit der Statue des heiligen Michael. Es ist ganz leicht zu finden. Sie sind â Sie sind doch wirklich auf dem Weg zu mir?«
Annika neigte sich zu Ella, als wollte sie mithören; ihre Wange berührte fast Ellas Hand. Sie duftete nach einem teuren Parfüm, das gleichzeitig süà und herb war, verführerisch und gefährlich.
Forell sprach schneller. »Ich habe keine Nachricht von Raymonds Tod erhalten, das heiÃt, er ist noch am Leben. Jemand muss ihn darüber informieren, dass er sich nicht mehr auf mich verlassen kann. Sie müssen ihn informieren! Nehmen Sie Kontakt mit Serge Barrault in Paris auf, fragen Sie ihn, was Sie tun sollen. Sagen Sie ihm, dass der Stick jetzt in Ihrem Besitz ist. Wenn Sie ihn nicht erreichen oder wenn Sie hören, dass ihm oder Raymond etwas zugestoÃen ist, dann geben Sie den Stick Franz Wittstock im Finanzministerium; ihm kann man vertrauen. Wenn er jemand anderem in die Hände fällt, bedeutet das Raymonds Ende und dass niemand mehr die Verschwörer daran hindern kann, ihr Ziel zu erreichen. Und es bedeutet, dass Sie auch sterben, hören Sie? Wenn der Stick nicht mehr existiert, werden sie jeden töten, der davon weiÃ.«
Warum hast du die Aufnahme nicht längst veröffentlicht, du Idiot, dachte Ella; so viele Menschen könnten noch leben. Sie hörte ihn wieder einen Schluck von seinem Wein trinken. »Was noch? Habe ich noch etwas vergessen? Mein Gott, so ein Ende â so ein Ende ⦠Ach, das Journal â die Chronik, die Matthias Steinberg, der deutsche Hauslehrer von Sébastien, Jean-Marie und Madeleine Schneider, verfasst hat. Madeleine hat mir kurz vor ihrem Tod noch das Original mit ihrer Magisterarbeit geschickt. Darin beschreibt er, was er während seiner Zeit
im Elsass und danach in Deutschland erlebt hat. Bei uns haben er und sein Bruder Oskar ja später in Potsdam die in Reiterkreisen berühmte Steinberg-Zucht gegründet. Hören Sie das? Können Sie das hören?«
Hektisch sprach er weiter, redete, um zu reden, als würde Schweigen eine Leere schaffen, die nur sein Tod füllen konnte. »Wir hatten es ja geschafft, Fräulein Schneider und ich, wir haben die letzte noch lebende Verwandte der Steinbergs in Potsdam aufgespürt â eine Urenkelin, verheiratet mit einem iranischen Journalisten im Exil. Und die Frau hat tatsächlich auf dem Dachboden unter allem möglichen längst vergessenen Krimskrams ihrer Eltern und GroÃeltern in einer Truhe dieses handschriftliche Journal entdeckt. Bei seinem Anblick wäre Madeleine fast in Tränen ausgebrochen. Deswegen war sie nach Berlin gekommen, eine lange, quälende Reise hatte sie an ihr Ziel geführt, zum letzten noch fehlenden Beleg für die Unschuld der Brüder und die Wahrheit dessen, was ihre GroÃmutter immer behauptet hatte! Sie hatte herausgefunden, warum ihr UrgroÃeltern sterben mussten, sie war den Fluss hinauf geschwommen bis â bis zu
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