Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
Vom Netzwerk:
gerettet. Annika, du musst mir helfen, in dem Chaos hier etwas zu finden. Mit den Hinweisen, die Forell mir noch geben konnte, bevor er starb, komme ich nicht klar.«
    Â»Was hat er gesagt?«
    Â»Nur einzelne zusammenhanglose Worte: Er hätte es versteckt, in der Kapelle, in dem Buch, irgendwas mit einem Brief – ach ja, wie der Brief – und dann noch: Poe.«
    Â»Was für eine Kapelle?«
    Â»Ich bin in einer Kapelle, die Forell zu seiner Wohnung umgebaut hat.«
    Â»Gibt es da Bücher?«
    Â»Jede Menge. Aber die hat sich schon jemand vorgenommen, als wir noch mit ihm auf der Spree zusammen waren.«
    Â»Logik«, sagte Annika. »Der Brief. Denk an den Brief.«
    Â»Welchen Brief?«
    Â»Den in der Geschichte von Edgar Allan Poe: Der Brief war da versteckt, wo man ihn am wenigstens vermutete, nämlich ganz offen zugänglich unter einem Stapel anderer Briefe auf dem Schreibtisch. Das, was du suchst, steckt in einem der Bücher, in denen keiner mehr suchen würde, weil sie ganz offensichtlich schon mal durchsucht wurden. Genau deswegen hat Forell es dort versteckt – hinterher. Aber bevor der kam, der ihn erschossen hat.«
    Â»Weißt du, was das bedeutet? Hier liegen Hunderte von Büchern herum, und der Taxifahrer – «
    Â»Was ist mit dem Taxifahrer?«

    Â»Er hat die Leiche gesehen und sich in Panik aus dem Staub gemacht, weil er mich für die Mörderin hält – «
    Â»Das heißt, er hat sofort über Funk die Polizei verständigt und du hast nicht mehr viel Zeit, bevor du von da verschwinden musst. Gut, eins nach dem anderen. Erst suchst du das Buch, von dem Forell gesprochen hat.«
    Â»Aber welches ist es?«
    Â»Natürlich eins von Edgar Allan Poe, was sonst? Er hat dich wohl für belesener gehalten, als du bist. Und jetzt beschreib mir mal den Weg, ich komme dich holen.«

34
    Das Buch hieß The Collected Stories of Edgar Allan Poe und lag mit dem Einband nach oben auf dem Boden neben der Statue des Erzengels Michael. Als Ella es aufhob, konnte sie erkennen, dass die Bindung notdürftig erneuert und der Rücken nur scheinbar abgerissen worden war. Die Seiten fielen von selbst an einer Stelle auseinander, an der sie offenbar einen festen, schmalen Gegenstand verbargen. Der Geruch von frischem Klebstoff stieg von ihnen auf.
    Ella riss die Seiten heraus, löste sie voneinander und hielt einen flachen, ungekennzeichneten Memory Stick in der Hand. Sie legte ihn auf das Podest der Statue, dann blätterte sie weiter. Auf den letzten Seiten hörte der gedruckte englische Text auf. Die nächsten Blätter hatten eine andere Färbung und waren nur behelfsmäßig mit Messer oder Schere auf das Format der vorherigen zurechtgestutzt worden. An die Stelle der horizontal verlaufenden Linien des Drucks traten jetzt vertikal abfallende handschriftliche Zeilen – Deutsch statt Englisch –, und um sie lesen zu können, musste Ella das aufgeschlagene Buch drehen.
    Sie überflog die ersten Sätze: Wenn man die Frage beantworten will, wie es zu der Begegnung zwischen Raymond Lazare und Madeleine Schneider kommen konnte und was für ein Schicksal die beiden Familien verbunden hat, muss man zurückgehen bis ins Jahr 1929, als die Schneiders und die Lazares noch im selben kleinen Ort im Elsass als Nachbarn lebten. Ich will versuchen, die
Begebenheiten so verständlich wie möglich zusammenzufassen, trotz der wenigen Zeit, die mir noch bleibt.
    Die Kugelschreiberschrift war krakelig, teilweise verschmiert, und zeugte von der großen Hast, mit der Forell die Informationen zu Papier gebracht hatte. Rasch blätterte Ella die in der Mitte gefalteten und notdürftig eingeklebten Seiten durch, die sich unter ihren Händen aus dem Buch lösten. Weiter hinten änderten sich Qualität und Farbe des Papiers noch einmal, und die ebenfalls von Hand, aber mit Tinte geschriebenen Zeilen verliefen wieder horizontal, wie die Eintragungen in einem Notiz- oder Tagebuch. Das Papier zerfiel fast unter ihrer Berührung, es war vergilbt und an den Rändern auf eine Weise ausgefranst, die seinem Alter geschuldet war, nicht der brutalen Eile suchender Hände. Auch die Tinte war verblasst, die Schrift dagegen sorgfältig, fast penibel ausgeführt.
    Das Grauen, das mich beim Anblick der Ermordeten packte, war unbeschreiblich, las Ella, diesmal eindeutig von anderer Hand verfasst, in größerer Ruhe

Weitere Kostenlose Bücher