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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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die Schamlosigkeit, deren Zeuge ich geworden war. Ich war einer der zahllosen kleinen Zuarbeiter, die den großen Stars assistierten, und ich sah, wie alle um mich herum angetrieben wurden von Angst, Ehrgeiz und Eitelkeit, von der Gier nach Reichtum und Macht. Wie bei einer Massenpanik kletterte jeder über den anderen hinweg, sie trampelten sich gegenseitig fast tot, um ganz vorn dabei zu sein, wenn die Partnerschaften, die Boni, die Millionengehälter verteilt wurden.
    Und trotzdem, vielleicht wäre ich auch heute noch einer in diesem griechischen Chor aus flüsternden, säuselnden, schachernden associates . Vielleicht stünde auf den Messingschildern und Briefköpfen jetzt sogar Rochefort, Gladstone, Wentworth & Lazare, wenn es unter der Bühne, auf der die Götter und Helden agierten, nicht auch den Hades gegeben hätte. In den stieg ich eines Tages hinab, um für einen Fall in den alten Akten zu recherchieren. Und dort, in unserem höchsteigenen Hades, entdeckte ich neben dem Gesuchten natürlich noch das, was man in jeder griechischen Tragödie findet: die Schuld der Ahnen, die vergrabenen Leichen. Zusammen mit dem Widerwillen gegen die Ränke, mit denen ich mein täglich Brot verdienen sollte, gaben diese Dokumente – die nur durch Zufall achtzig Jahre überlebt hatten und von denen außer mir niemand mehr zu wissen schien – den Ausschlag für meine Entscheidung. In ihnen fand ich nämlich die Geschichte des Aufstiegs von Lazare & Fils zur internationalen Großbank mit Sitz in Paris. Aber vor allem stieß ich auf einen Polizeibericht aus dem Jahr 1929, in dem in allen Einzelheiten ein Verbrechen beschrieben wurde, das sich an einem Tag im November jenes Jahres im Haus einer Familie Schneider, den Nachbarn des Urgroßvaters meines Vaters, abgespielt hatte. Es gab sogar
Fotos vom Tatort, von den Opfern und von meinem Ururgroßvater, der als Erster am Tatort gewesen war. Die Leichen eines Mannes und einer Frau. Die Leichen eines Dieners und einer Dienerin. Die Leichen von zwei Kindern! Und es fand sich das Motiv: Geld.«

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    Â»Es war ein ungesühntes Verbrechen«, sagte Frère Rémy, »ein Verbrechen, für das jemand büßen musste, damit die Toten endlich Frieden finden konnten. Jemand aus der Familie der Täter. Ich sprach mit meinem Vater, aber der war uneinsichtig und ließ die Beweise verschwinden. Ich sprach mit meinem Onkel, der ebenfalls uneinsichtig war und auch die Kopien der Beweise verschwinden ließ. Ich blieb hartnäckig, immer wieder zwang ich ihn, mir zuzuhören, und als ich beschloss, mein Leben Gott zu weihen, wurde er wankend. Aber erst die Begegnung mit einer jungen Studentin, ausgerechnet eine Nachfahrin jener ermordeten Familie, führte ihn auf den Pfad der Erkenntnis: Gottes Wege, Gottes Fügung, Gottes Werkzeug.«
    Â»Vielleicht war es auch bloß ein Zufall«, sagte Ella mit vollem Mund. »So wie der, dass Ihr Onkel und ich beide derselben Studentin begegnet sind, und jetzt beide mit dem Tod bedroht werden.«
    Â»Und das nennen Sie tatsächlich noch Zufall?«, fragte Frère Rémy ungläubig. »Dann glauben Sie wohl auch nicht an Gott?«
    Â»Ich bin Ärztin. Bei dem, was ich tagtäglich zu sehen bekomme, fällt es schwer, an einen Gott zu glauben. Jedenfalls an einen gütigen Gott.«
    Â»Ja, ich verstehe – wenn es ihn gibt, wie kann er das zulassen … Aber Gott ist nicht nur gütig, das kann er sich gar nicht leisten, und das will er auch nicht sein. Denn er befindet sich im Krieg, er wird angegriffen, und manchmal verliert er Schlachten, bei
denen es unendlich viele Opfer gibt, die er nicht verhindern kann, wenn er den Krieg am Ende gewinnen will.«
    Â»Und gegen wen verliert er diese Schlachten?«
    Â»Gegen das Böse. Gegen Luzifer und seine Heerscharen.« Frère Rémy stand auf und trat ans Fenster, als müsste er auf die aufgewühlte See schauen, um dort eine Entsprechung für das Toben in seiner Seele zu finden. »Deswegen bin ich hierhergekommen, nach Mont Saint-Michel, denn dieser Ort ist dem heiligen Michael geweiht, jenem Erzengel, der von Gott dazu auserwählt wurde, den abtrünnigen Erzengel Luzifer zu bekämpfen. Gleich nach Jesus Christus ist er der mächtigste Himmelsfürst, und seine Aufgabe ist es, den Menschen auf der Erde beizustehen, an ihrer Seite zu gehen und ihre Seelen auf dem Weg ins Jenseits,

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