Erlosung
in der Steinmauer konnte Ella das jetzt dicht herangerückte Meer sehen. Weit drauÃen war es ein silbriges Glitzern im Mondschein, aber unter ihr umspülten schwarze Wellen mit grauen Kämmen den Felsen und brachen sich tosend am Damm. Mauern und Pflastersteine glänzten vom Niederschlag unsichtbarer Gischt. Die feuchte Luft roch nach Seetang und Salz. Auf der anderen Seite der Bucht blitzte der Scheinwerfer eines Leuchtturms auf.
Der Mönch lieà ihre Hand nicht los. Er zog sie die holperig gepflasterte Gasse hoch, um eine Ecke und eine Treppe hinauf. Ihre Schritte hallten zwischen den eng stehenden Häusern. Die StraÃen unterhalb des Wehrgangs waren jetzt leerer. Die Souvenirläden hatten geschlossen, und die meisten Touristen saÃen in den Restaurants beim Essen.
Im Schein einer gelben Laterne, die an zwei Eisentrossen im kalten Nordwind schaukelte, sah Ella, dass Frère Rémy jünger war, als sie zuerst gedacht hatte. Er hatte ernste, dunkelbraune Augen, fast schüchtern, von denen die Brauen aufstiegen wie winzige schwarze Schwingen. Seine olivgetönte Haut war trotz Sonne und Wind noch glatt, und die blassen Lippen schienen nicht zu der entschlossenen, selbstsicheren Stimme zu passen. »Es ist nicht weit, nur ein kurzer Weg«, rief er laut wegen des
Windes, während er mit groÃen Schritten und flatternder Kutte voraneilte. »Vorsicht, Stufen â die Steine sind glatt!« Er zog sie die nächste Treppe hinauf, vorbei an einem schwarz aufragenden Turm. Von einer Dachkante starrte die verzerrte Fratze eines steinernen Wasserspeiers auf sie herab. »Da oben ist schon die Abtei.«
»Haben Sie mit Ihrem Onkel Kontakt aufgenommen?«, schrie Ella.
»Nein. Noch nicht. Ich weià ja nicht mal, ob ich ihn erreiche. Die Nummer, die ich habe, ist nur für den absoluten Notfall gedacht. Ich wollte sicher sein, dass Sie da sind, wenn er sich meldet.« Der Wind riss dem Mönch die Worte vom Mund. Heulend strichen die Böen über die Kluften im Felsen, aber wenn sie vorübergehend innehielten, hörte Ella ein Kirchenlied, die feierlichen Stimmen singender Männer und Frauen, die aus den Fenstern der Abtei über ihren Köpfen drangen. Hinter den Steinbögen schimmerte das warme Licht brennender Kerzen.
Ella strauchelte. Frère Rémy fing sie, bevor sie hinfallen konnte. Er legte ihr den Arm um den Rücken und führte sie schnell durch die leeren Gassen. Sie spürte seinen Arm, der sie mehr trug als stützte. Er war kräftig für einen so schlanken Mann. Hinter sich hörte sie laute Stimmen, die sich etwas zuriefen. Jetzt mischte sich das Rauschen von Baumkronen im Wind in das Donnern und Tosen des Meeres, und die Gesänge der Klosterbrüder und Schwestern schwebten nur noch in verzagten Fetzen zu ihr nieder.
Sie erreichten das groÃe Burgtor am Eingang der Abtei. Frère Rémy sperrte es auf, führte Ella hinein und schloss das Tor wieder hinter sich. Fast sofort erfüllte sie ein Gefühl der Sicherheit; sie befanden sich innerhalb der Klostermauern, auf dem Vorhof der Abteikirche. Sie war gebannt vom Anblick des Meeres und der Bucht, den Lichtern in den StraÃen unterhalb des Klosters und der endlosen Weite des Himmels. Ãber ihr
türmten sich Steine auf Steine, aus den Schatten von Balustraden und Halbreliefs wuchsen schlanke Säulen, Pfeiler und Bögen. Als Ella an den angestrahlten Mauern vor ihr zur Kirchturmspitze hinaufschaute, dachte sie, ein Wunder, das ist wunderschön.
Diesmal fing Frère Rémy sie wirklich. Die Insel unter ihr schien sich in die eine Richtung zu drehen und der Himmel mit den treibenden Wolken in eine andere. »Was haben Sie denn?«, fragte er.
»Es ist nichts«, sagte sie. »Ich habe bloà seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, und ich war zu nervös zum Essen, und der Cidre gerade â¦Â«
Auf beiden Armen trug der Geistliche sie zur nächsten Tür, die er öffnete, ohne sie abzusetzen, und er trug sie auch über die Schwelle. Der Geruch von kaltem Granit empfing sie. Dahinter sah sie einen kühlen, spärlich erleuchteten Klostergang an sich vorbeigleiten. Mit dem Kopf voran wurde sie über weitere Stufen getragen, eine steinerne Wendeltreppe hinauf, durch noch einen Gang, und sie sah nur die Decke und die Wände und kurz nacheinander zwei schattenhafte Gestalten in schwarzen Gewändern, die sich vorbeizwängten und
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