Erlosung
dabei von oben auf sie herabschauten. Sie hörte das Geräusch von schwerem Stoff, der an Steinwänden entlangschabte und das Knarren von Ledersohlen. Sie hörte auch den Wind durch die offenen Bögen eines Kreuzgangs pfeifen und das Gurren von Tauben, flatterndes Flügelschlagen, und dann wieder die Gesänge aus der Abteikirche, bis eine allerletzte Tür erreicht war, vor der Frère Rémy sie wieder herunterlieà und auf ihre FüÃe stellte. »Da sind wir«, sagte er. »Ein Ruheraum.«
Er öffnete auch diese Tür und führte Ella über den kahlen Steinboden zu einer schlichten Holzpritsche, über der eine Wandlampe unter einem runden Glassturz gelbliches Licht spendete. »Setzen Sie sich«, sagte er. Die schmale Matratze war
mit weiÃem Leinen bespannt, und eine dünne Baumwolldecke schloss genau mit den Kanten ab. Den Laken, der Decke und der Matratze entstieg der Geruch von Seetang. Dankbar sank Ella auf die Pritsche.
Frère Rémy griff in seine Kutte, holte das Handy heraus und wählte eine Nummer. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Raymond, câest moi. Le cas dâurgence est arrivé.« Mehr nicht. Er legte das Handy auf ein Stehpult. »Ich lasse Sie kurz allein.«
Er verschwand durch die Holztür, und Ella blieb auf der Matratze sitzen. Sie sah sich in der kleinen Zelle um, musterte die nackten Wände, den Holzschrank und das Bronzekreuz über dem Stehpult mit dem Handy und einem wie ein Fremdkörper wirkenden Laptop darauf. Vor dem Pult stand ein Betschemel, und das kleine Fenster, hinter dem das Meer zu beginnen schien, war nur angelehnt. In dem Ofen neben der Tür flackerte ein Feuer. Sie sah das alles, und dann wurde es dunkel, und sie sah es nicht mehr, und als sie wieder erwachte, stand Frère Rémy neben der Pritsche und stellte ein Glas, eine Teekanne und einen Teller mit belegten Broten auf den Nachttisch.
»Hat Ihr Onkel schon zurückgerufen?«, fragte sie.
»Noch nicht.« Er schenkte ihr ein Glas Tee ein. »Wie ich schon sagte, ich weià nicht, ob und wann er sich meldet. Ich weià nicht einmal, wie es ihm geht. Die Nummer, die er mir gegeben hat, führt zu einer Mailbox. Er hatte überlegt, in ein Hotel zu gehen, aber auf die Angestellten wäre wohl kein Verlass gewesen; er ist zu bekannt. Und sein Schloss wird natürlich von morgens bis abends beobachtet.«
»Wovon hängt es denn dann ab, ob er sich überhaupt meldet? «, fragte Ella.
»Vielleicht von der Flughöhe, auf der er sich befindet.«
Irgendwo rauschte eine Toilette, ein Geräusch, das Ella in dieser Umgebung merkwürdig unpassend vorkam. Die Brandung dröhnte bis zu der hoch auf dem Felsen gelegenen Klosteranlage
herauf, und der Wind schien gegen die Mauern anzurennen. Ein groÃer, von einem dunstigen Hof umgebener Mond, der vorhin noch nicht da gewesen war, hing jetzt am Himmel vor dem Fenster.
Frère Rémy zog den Betschemel heran und setzte sich darauf. »Essen Sie etwas, das wird Ihnen guttun.« Er beobachtete sie mit weit offenen Augen, eine eigenartige Dringlichkeit im Gesicht. »Sie sind eine sehr tapfere Frau«, sagte er. »Aber die Leute, die Ihnen folgen, sind Abgesandte des Teufels. Wenn ich an sie denke und an das, was sie tun, fühle ich, wie meine Seele zu Eis wird.« Ein anderes Geräusch folgte, ein rasselndes Klirren. »Das sind die Wasserrohre«, erklärte er. »Es klingt, als wären Menschen darin gefangen â Sträflinge, die irgendwo unter uns in feuchten, dunklen Kerkerzellen mit ihren Ketten gegen das Eisen schlagen. Wussten Sie, dass der Mont Saint-Michel einst ein Gefängnis war? Zuerst im Hundertjährigen Krieg, dann während der Französischen Revolution und schlieÃlich unter Napoleon I., da war es ein Staatsgefängnis für seine politischen Gegner und missliebige Kleriker. Damals nannte man es die Bastille über dem Meer. «
Ella nahm ein mit Schinken und Gurkenscheiben belegtes Brot. »Warum sind Sie in dieses Gefängnis gegangen?«, fragte sie.
»Für mich ist es kein Gefängnis«, sagte er.
»Wollten Sie denn schon immer einem Orden beitreten? Wollten Sie nie einen anderen Weg gehen als den ins Kloster?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber natürlich! Anfangs sah es ganz so aus, als würde ich in die FuÃstapfen meines Vaters treten und Anwalt werden, Maître Rémy Lazare, mit
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