Erlosung
zu Gott, zu geleiten. Den Drachen in Schach zu halten. Kennen Sie die Offenbarung des Johannes? Die Stelle über den Kampf Michaels gegen den siebenköpfigen Drachen? Es ist ein schrecklicher Kampf, und der Drache ist ein gewaltiges Ungeheuer, dessen Schwanz die Sterne vom Himmel fegt und zur Erde stürzen lässt. Und dieser Kampf, diese Schlacht ist noch nicht vorbei, sie geht weiter bis in die Zukunft, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.«
Er drehte sich um und breitete verlegen die Hände aus. »Ich doziere schon wieder. Jedenfalls â hier hoffte ich die Kraft zu finden, der es bedarf, wenn man die Angreifer Gottes erforschen will, um sie bekämpfen zu können â das groÃe Dunkel, die tiefe Leere, in der das Böse ist und aus der es immer wieder in die Seelen der Menschen aufsteigt.« Er schien seinen Worten nachzulauschen. »Wenn man es erforschen will, ohne selbst hineinzustürzen und für immer davon aufgesogen zu werden«, ergänzte er.
Er ging zum Stehpult, griff nach dem Handy und wählte. »Aber von Sankt Michael abgesehen hat mir auch das Motto der Brüder und Schwestern der Monastischen Gemeinschaften
von Jerusalem gefallen: âºSich nicht aus der Welt zurückziehen, sich aber hüten vor dem, was den Geist der Welt ausmacht.â¹ Ich glaube, diesem Motto werde ich gerade wohl einigermaÃen gerecht! «
Er wechselte ins Französische und sprach ins Handy. »Jean-Jacques, le bâteau est preparée? Oui, elle est là . Non, sais pas. Il faut attendre. « Er legte das Handy wieder zurück auf das Stehpult. »Ich habe einen Freund, einen Fischer, der Sie mit einem Boot an Land bringen wird, sobald Sie mit meinem Onkel gesprochen haben. Sie können nicht hierbleiben, es ist gegen die Klosterregeln, und nach Tagesanbruch kann ich mich nicht mehr für Ihre Sicherheit verbürgen.«
Ella sah auf ihre Uhr. Es kam ihr vor, als wäre viel Zeit vergangen, seit Frère Rémy sie unten im Dorf abgeholt hatte, aber es war noch nicht einmal Mitternacht. Ich wünschte, er würde endlich anrufen, dachte sie.
»Vielleicht ist es ja einfach so, dass es einen Gott gibt für die, die an ihn glauben, und für die, die nicht an ihn glauben, gibt es keinen«, gab sie zu bedenken. »Und das Böse ist nicht für alle gleich Luzifer, sondern einfach nur die Abwesenheit vom Guten. So wie Sie hier in der Welt sind, sich dem Geist der Welt aber nicht unterworfen haben. Und alles, was Sie göttliche Fügung nennen, hat sich durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren ergeben, von denen wir nur einen Bruchteil kennen.«
»Wieder Ihr Zufall?«
»Genau betrachtet ist es eher eine ganze Kette von Zufällen.«
Frère Rémy fuhr sich mit der flachen Hand über die nackte Kopfhaut. »Sie meinen wirklich, all das, was Ihnen in den letzten Tagen, vielleicht Wochen zugestoÃen ist, was Sie hierhergebracht hat, ist nur eine Folge von Zufällen?« Auf einmal wirkte er fast wütend. »Wenn es um Leben und Tod geht, gibt es keine Zufälle mehr. Oder, anders ausgedrückt, je mehr auf dem Spiel steht, desto häufiger treten sie auf, so häufig, dass sie nicht
mehr Zufälle genannt werden können. Meinetwegen zäumen Sie das Pferd auch von hinten auf: Je leichter die Gewichte sind, je weniger auf der Waagschale liegt, je geringer die Konflikte und bedeutungsloser die Krisen sind, desto weniger sogenannten Zufällen sehen Sie sich ausgeliefert. Und dafür gibt es einen Grund, nämlich den, dass Zufälle herbeigeführt werden. Nicht von Ihnen oder mir, nicht einmal von mächtigen Männern wie meinem Onkel. Sondern von den Hilfstruppen Gottes und des Teufels. Sie sehen also, auch die Häufung von Zufällen, wenn jemand so einen Kampf wie Sie aufnimmt, ist eine Art Gottesbeweis. «
Das Handy auf dem Stehpult gab einen leisen Summton von sich, aber er schien es nicht zu hören.
»Der ewige Kampf zwischen Gott und dem Teufel ist nämlich so gewaltig«, fuhr er fort, »dass die ihn gar nicht allein führen können, keiner von beiden. Jeder hat Hilfstruppen â Adjutanten wie Erzengel Michael, Generäle, eine Armee von Engeln und Dämonen, die immer wieder versuchen, den Verlauf der Schlacht zu beeinflussen, zu ihren Gunsten zu wenden, und zwar mit allen möglichen Tricks, manche davon ziemlich schmutzig. Mit Finten, mit überraschenden Schachzügen,
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