Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
Vom Netzwerk:
des frühen Morgens. »Und was sagen sie sonst noch so über mich?«
    Â»Alles verletzt sie«, Max stemmte sich mühsam hoch, »aber nichts kann sie erschüttern. Niemand nimmt es so schwer wie du, wenn er einen Patienten verliert. Einfach weiterleben wie alle anderen, wenn einer sterben musste, weil du ihn nicht retten konntest – für Superdoc unmöglich.«
    Â»Und warum ist das so, was meinst du?«
    Â»Weil du die Lobotomie nicht machen lässt, zu der ich dir dauernd rate«, sagte Max.
    Sie fuhr ihn zu seiner Wohnung am Hackeschen Markt und hielt vor dem schäbigen, schlecht verputzten Haus, in einer schmalen Straße, die noch nicht luxussaniert worden war. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass sie bis auf den von Schlaglöchern und Rissen zernarbten Asphalt schien. Die Fenster eines auf den Stahlbrücken zwischen den Dächern vorbeirollenden S-Bahn-Zuges spiegelten den blauen Himmel. Max war eingenickt, aber jetzt wachte er auf und griff nach seiner Krücke. »Du schaffst das schon, Bambi«, sagte er.
    Â»Was?«
    Â»Alles.« Er blinzelte, langsam wie ein Leguan. »Du hast eine saftige, junge Seele, wie frisches Moos. Egal, wie oft man darauf tritt, es richtet sich immer wieder auf und strahlt so frisch und grün wie eben erst gewachsen.«

    Â»Und du bist ein lieber Kerl, Max …«
    Â»â€¦ den du nicht mehr liebst.« Er schwang sich aus dem Wagen und humpelte zum Eingang, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Sie sah ihm nach, bis er durch die mit roten und blauen Graffiti besprühte Holztür verschwunden war. Ich liebe überhaupt niemand mehr, dachte sie . Dann fuhr sie den Sprinter zur Feuerwache, wo er vor dem nächsten Einsatz gewaschen und desinfiziert werden musste. Das ziegelrote Backsteingebäude war wie ausgestorben, die Tore der leeren, schattigen Garage standen weit offen. Jedes Fahrzeug befand sich im Einsatz. Der Schichtleiter saß grau und erschöpft hinter seinem Schreibtisch, dunkle Schweißringe unter den Achseln seines Uniformhemds, eine Hand auf dem Regler der Sprechanlage, in der anderen den Telefonhörer.
    Ella hängte den Fahrzeugschlüssel in den Schlüsselkasten. Einen Moment lang sah sie alles unscharf vor Müdigkeit. Nicht mehr nach Hause, dachte sie; es war zu weit weg, einfach zu weit jetzt. Sie öffnete die Tür zur Materialkammer, in der eine Pritsche stand. Die Pritsche war leer, und Ella schloss die Tür und legte sich auf die dünne Matratze. Sie hörte den Schichtleiter telefonieren, und seine Stimme beruhigte sie. Sie hörte das Knacken im Lautsprecher der Funkanlage, abgehackte Stimmen, eine ferne Sirene, und auch das beruhigte sie.
    Sie dachte an Max. Schlaf gut , Max , dachte sie; ich weiß nicht, warum ich aufgehört habe, dich zu lieben, es ist einfach passiert. Dann dachte sie an Silvan, und bei ihm wusste sie, warum sie aufgehört hatte, ihn zu lieben. Sie fragte sich, ob es gar nicht sie war, die zu lieben aufhörte, sondern ob nicht einfach die Liebe aufhörte, ganz ohne sie, so wie ein Medikament irgendwann einfach verfiel und nicht mehr wirkte.
    Stell dir vor, dachte sie, Liebe wäre ein Notfallkoffer, in dem man einfach die abgelaufenen Gefühle ersetzt oder die verbrauchten
austauscht – neues Adrenalin, neuer Sauerstoff, meinetwegen auch neues Morpium, Hauptsache, der Koffer bleibt und man hat wieder ein Leben gerettet, das eigene, das des anderen. Man hat beatmet, wiederbelebt, den Kreislauf in Gang gebracht, vielleicht ein bisschen intubiert, vielleicht einen kleinen Elektroschock verabreicht, die Brüche fixiert, die Wunden gesäubert, und niemand muss sterben, man kann zusammenbleiben. Das Herz schlägt wieder, bis zum nächsten Mal.
    Sie dachte daran, wie sie gestern Nacht um halb zwei in ihrem alten Karmann Ghia Cabrio mit offenem Verdeck durch die halbe Stadt gefahren war und Silvans Sachen auf die Straße geworfen hatte, als Erstes seine Joop!-Shorts direkt vor der Haustür in der Akazienstraße, Schöneberg , den albernen roten Jogginganzug mit den schwarzen Streifen von Puma in der Uhlandstraße, Wilmersdorf , das graue Ermenegildo Zegna-Sakko auf dem Kurfürstendamm, schon fast Tiergarten , die schwarzen Prada-Schuhe – wenigstens den einen, den sie in der Eile erwischt hatte – irgendwo in Kreuzberg , und zwei Armani-Jeans waren schließlich von der Kolonnenbrücke auf die S-Bahngleise

Weitere Kostenlose Bücher