Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
Vom Netzwerk:
sich aus, wurde immer dichter. Er war schon bei Ella, kroch um sie herum.
    Â»Was hast du denn?«, fragte Ella.
    Â»Siehst du den Mann da?«, fragte Annika.
    Der Mann trug einen grauen Gabardineanzug und wartete an der hydraulischen Schiebetür, durch die Passagiere die Halle betreten mussten. Er stand mit dem Rücken zu ihr, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Eben war er noch nicht in der Halle gewesen, und sie hatten ihn nicht kommen sehen. Er stand ganz ruhig, wie ein Jagdhund, der auf den Befehl zum
Apportieren wartete. In seinem rechten Ohr steckte ein Knopf, von dem ein dünnes Kabel seinen Hals hinunterführte und im Kragen verschwand.
    Sie sind hier, dachte Ella; ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, aber sie sind hier. Sie ließ den Mann nicht aus den Augen. Zeig mir dein Gesicht . Bitte, dreh dich um und lass mich dein Gesicht sehen.
    Er bewegte sich, als hätte er ihre Gedanken gehört, wandte den Kopf jedoch nicht.
    Kennen Sie das Märchen vom Hasen und dem Igel? Geben Sie sich keine Mühe, zu rennen. Wir sind immer schon da. Und wenn wir nicht da sind, wissen wir, wo Sie sind.
    Sie holte ihr Handy heraus und tippte die Mobilnummer ein, die der Bankier ihr vor zwei Stunden gegeben hatte. Das Freizeichen ertönte – einmal, zweimal, dreimal, viermal. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Das Klingeln ging weiter – fünfmal, sechsmal, siebenmal. Niemand meldete sich. In Gedanken hatte sie schon Lazares leise Stimme gehört: Hallo, ja, wir sind gerade gelandet. In einer Viertelstunde ist alles vorbei.
    Annika beobachtete abwechselnd Ella und die Männer in der Halle. Es schienen immer mehr zu werden. Gleichzeitig kam es ihr vor, als ziehe sich der riesige Raum langsam um sie zusammen, die Pilger, das lustlose Flughafenpersonal, die Sicherheitskräfte. Der flirrende rosa Nebel kroch über den Hallenboden wie Gas. Ein Gewicht lag auf ihrem Magen, doch dort blieb es nicht, es stieg in ihrer Brust nach oben und drückte auf die Lunge, als bekäme sie zu wenig Luft. Sie spürte, wie ihr Herz sich gegen den Druck auf die Lungen wehrte; es begann zu rasen. Du darfst dich nicht aufregen. Beruhige dich .
    Ella hörte nur das Freizeichen – achtmal, neunmal, zehnmal. Geh dran, mach schon, ihr seid doch gelandet, ihr müsst doch bald aussteigen. Aber die Leitung blieb frei. Da, endlich ein Knacken. »Monsieur Lazare!?«, rief sie, doch sie hörte nur eine Frauenstimme,
die sagte: »The person you’ve been calling is temporarily not available«, und Ella unterbrach die Verbindung.
    Â»Was ist los?«, fragte Annika. Sie fummelte ihre Tabletten aus der Jackentasche. Sie schüttelte zwei aus dem Döschen auf ihren Handteller, warf sie in den Mund.
    Â»Lazare meldet sich nicht«, sagte Ella. Niemand meldet sich mehr. Ihre Hand schmerzte, so heftig hatte sie das Handy umklammert. »Siehst du den Mann da an der Passagierschleuse? Ich glaube, das ist einer von ihnen. Und der da hinten in der Halle auch.« Sie deutete auf die Scheibe, dorthin, wo sie die Reflexion des Mannes mit den Indianerhaaren zuletzt gesehen hatte.
    Ella wirkte fremd und etwas verzerrt, sie schien sich vor- und zurückzuneigen, obwohl sie aufrecht stehen blieb. Sie schaute gleichzeitig auf die Rollbahn hinaus und in die Halle und auf ihr Handy, und wenn sie sich bewegte, konnte Annika die Schleifspuren der Bewegungen im Licht sehen, Millimeter für Millimeter. Ellas Stimme dröhnte in ihren Ohren, aber im nächsten Augenblick konnte sie ihre Worte kaum verstehen. Plötzlich wurde ihr schlecht, die Beklemmung in ihrer Brust war jetzt so heftig, als müsste sie sich gleich übergeben. »Ich sehe noch mehr«, sagte sie.
    Der Mann mit den Indianerhaaren war zwischen den Pilgern verschwunden. Dafür entdeckte Annika jemand anderen, am Durchgang zu den Gepäckbändern: eine Gestalt, die zu ihr herüberstarrte, einen großen rosa Fleck im Gesicht. Sie stieß Ella an. Ella starrte weiter in die Scheibe, in der sie die Gestalt auch sah, und dachte, sie müssen unser Telefonat abgehört haben. Aber dann wissen sie auch, dass du da bist, um Lazare abzuholen. Sie wissen es, und trotzdem haben sie nichts unternommen.
    Noch einmal dachte sie: Sie wissen, dass du da bist, und sie haben nichts unternommen.
    Draußen dockte die Gangway an der Ausstiegsluke des Jets an. Der Rumpf der Maschine glänzte im Licht der

Weitere Kostenlose Bücher